arbeiten wollen: Genervte Bemerkung im Krebstagebuch. Sonntag, den 16. August 2020.

[Siehe auch → Trainingsprotokoll]

[Arbeitswohnung, 14.09 Uhr
france musique contemporaine:
Steven Stucky, Concerto for Orchestra No 2 (2003)]
(Wieder ein mir neuer Name, den ich über das
ausgezeichnete Netzprogramm france musique kennenlerne.)

 

Es ist schon etwas nervig. Seit drei Tagen sitze ich an der → Sanaqaba-Erzählung, möchte also Die Große Enteinigung schildern, habe auch alles, was nötig, beisammen, sogar eine treffliche Bildauswahl — und eigens sogar wurde meiner Bitte nachgegangen, die Krebsin und das gesamte herausoperierte Gewebe zu fotografieren … danke, danke, dafür, daß man’s tat; für meine Erzählung habe ich bereits Liligeias Augen und Spaltbeine mit einkonstruiert, die hier, auf dem Originalbild, noch fehlen:

 

 

 

 

 

Aber ich versage ständig, bekomme meinen Text nicht fertig … was heißt “fertig”??, komme nicht weiter … Immer wieder geht mir unversehens die poetische Gestaltungslust verloren, es bleibt ein tückisches “Wozu?” Dann kommt schon der Impuls erneut, der gute, aber weiß sich nicht umzusetzen, weil ich plötzlich erschöpft bin, mich hinlegen muß, dann meist auch eine bis zwei Stunden schlafe: tags, nicht etwa nachts. Da liege ich gefühlte Ewigkeiten lang wach, schon weil ich wegen des Bauchschnitts meine normale Seitenlage nicht einnehmen, aber auch nicht ganz flach auf dem Rücken liegen kann. Denn dann wird die sich bildende Narbe überstreckt, und ich fürchte, daß sie aufreißt. Mit einiger Kunstfertigkeit mußte ich mir ein schräges Rückenpolster bauen, so daß ich, was mein geliebtes Lager sonst nicht zuläßt, im quasi Sitzen schlafen oder doch zumindest zu dösen versuchen kann. Wenn aber dann noch der Darm rumort, weil ihm (noch) nicht gelingt, alles schnell gut zu verdauen, ist’s um die Nacht geschehen. Um die letzten drei Nächte nun schon — was meine Konzentrationsfähigkeit nicht steigert. Wobei ich selbst schuld, weil durchaus nicht ohne Dummheit bin. Vorgestern sah ich Federweißen im Regal und konnt’ nicht wiederstehen. Abends, gleich nachdem ich mir ein Glaserl, keine 0,1, eingeschenkt hatte und die Flüssigkeit so schäumte, wurde mir das Risiko klar, ohne aber doch wenigstens jetzt widerstehen zu können. Stattdessen das Innengejammer: “wenigstens zu kosten, ach!” Ich habe die Zeit dieses trüben Halbweinsmostes immer geliebt.
Und beließ es bei dem halben Glaserl. Doch es genügte schon. Nicht nur, daß ich einfach nicht einschlafen konnte, sondern der Gärprozeß setzte sich heftig im Dünndarm fort, so daß er sich blähte und blähte.
Gegen fünf Uhr morgens wurde es etwas besser, um halb sechs konnte ich auf Toilette und ward für irgendwas belohnt; um sechs schlief ich endlich ein und erwachte um halb acht.

Auf und an den Schreibtisch. Die Wunde motzte. Doch ist das ihr Recht, weshalb ich auch kaum Schmerzmittel nehmen muß; da sie zu jucken begonnen hat, weiß ich, der Heilprozeß ist in Gang. Unruhig machte mich nur, daß ich von gestern 71,9 zu den heutigen 70,8 fast ein ganzes Kilo verloren habe. Auf keinen Fall will ich wieder unter 70 kommen, weiß aber gerade nicht, wie ich es verhindern soll: Ich esse, wie’s nur geht, muß aber immer auf besonders kleine Portionen achten. Und was ich esse und vertrage, ist nach und nach einfach auszuprobieren. Geht’s schief, kostet’s erneut eine Nacht. Das zehrt ebenfalls am Arbeitswillen und seiner Konzentration. Da ich arbeiten aber eben will und vor allem genau weiß, was und wie es zu tun ist, setze ich stets erneut an und lasse deshalb dann auch anderes liegen, das fortgesetzt werden sollte, etwa → die Kantorowicz-Lektüre. Was wiederum meine Nervosität vergrößert, abermals etwas fragmentarisch zu lassen. Es sind mir zu viele Fragmente in den letzten Jahren; selbst mein mir wichtiges → NABOKOVLESEN ist sozusagen auf den letzten kaum noch einhundert Metern liegen geblieben, als wär dem Ferrari der Sprit ausgegangen. Nicht Unähnliches gilt ja leider nach wie vor für das letzte → Béartgedicht. Und schon muß ich an → die Triestbriefe denken, an → DIE LIEBE IN DEN ZEITEN DES INTERNETS und → MELUSINE WALSER und so weiter und so fort. Gelingt mir denn gar nichts mehr – vollendet? Nun gut, wär ich nicht im Herzen Klassizist, ich könnt’ es unter “Moderne” verbuchen. Doch bin ich halt einer und war es wahrscheinlich schon seit Beginn — was ich bloß nicht wußte, zumal es noch dem dreißigjährigen Herbstspund nicht lieb gewesen wär. (Nebenbei, zu einem der Probleme meiner Literatur: Es kann durchaus geschehen, daß ich in einer Geschichte statt “Jungspund” vom Stichloch und/oder einem verschließenden Zapfen spreche, was wiederum  niemand verstünde, oder nur sehr wenige Menschen könnten es. Ein großer Bereich meiner Arbeiten lebt aus und von Anspielungen, die ich nicht eigens mehr ausführe, sondern unklugerweise als bekannt voraussetze. Selbst Zitate sind ja nur dann als solche erkennbar. Und in meinem Beispiel hier wäre sich einfach auf die Etymologie des Jungspunds bezogen, nach der indes, sofern das Wort überhaupt noch verwendet wird, niemand mehr fragt.)

ANH
[Simon Parkin, Le chant des oiseaux]

13 thoughts on “arbeiten wollen: Genervte Bemerkung im Krebstagebuch. Sonntag, den 16. August 2020.

  1. Ja -Das eine ist der Schaffenswille, der andere: Die Schaffenskraft – diese tiefgreifende Operation, berührt nicht nur die Körperlichkeit, wie wir wissen- es braucht SEINE Zeit, bzw. Ihre Zeit- sich in eine eigene, veränderte Lebensform einzufügen – dauert eben– mich wundert eh, das Sie schon wieder zuhause sind und sofort meine Frage nach dem Ernährungs-bzw. Einkaufsplan, den man Ihnen mitgegeben  hat!? — Meine Idee, wie könnte es anders sein, wäre nun, beherzt zur Astronautennahrung sprich: FRESUBIN oder einem ähnlichen Präparat zu greifen–die Portionen sind ja hochkalorisch und könnten helfen über die schwierige Klippe der Ernährungsumstellung zu kommen–ich weiß, diese Alternative beinhaltet keinesfalls den prickelnden Genuss, den Sie sich möglicherweise wünschen, aber ich sehe es genau wie Sie:  bitte rutschen Sie nicht unter die 70 kg Marke … und ja, natürlich vermisse ich auch die spannenden “Nabokov”Besprechungen und selbst die Exkursionen in die “Nefud” (danach) fehlen mir – macht aber nix – Sie haben diesen großen Eingriff überlebt und nun gilt es, sich von dieser Strapaze zu erholen. Ich freue mich jedenfalls, überhaupt etwas von Ihnen lesen zu können- Danke dafür… RIvS.

     

  2. gelesen, geschluckt – – – das erste Bild… der mittlere Bereich das muss der Magen sein und diese wie Lava sich darum ergießenden Gewebeteile… ich hoffe auf den Bericht, der dieses Ereignis genauer beschreibt, aber drängle nicht, vielmehr verneige ich mich.

  3. Geduld üben

     

    paciência
    aciênciap
    ciênciapa
    iênciapac
    ênciapaci
    nciapaciê
    ciapaciên
    iapaciênc
    apaciênci
    paciência
    paciência
    aciênciap
    ciênciapa
    iênciapac
    ênciapaci
    nciapaciê
    ciapaciên
    iapaciênc
    apaciênci
    paciência
    PACIÊNCIA
    ACIÊNCIAP
    CIÊNCIAPA
    IÊNCIAPAC
    ÊNCIAPACI
    NCIAPACIÊ
    CIAPACIÊN
    IAPACIÊNC
    APACIÊNCI
    PACIÊNCIA

     
                     

     © werner k. bliß

                                                                                                                                       
     
     
     
     

  4. Reni Ina von Stieglitz Oh je. Puh…ähnliche Bilder kenne ich aus der OP meines Bruders…mich beschäftigt die Frage: was dürfen Sie denn essen und wie geht der Darm damit um..

    Florian Voß jesus. das ist heftig. viel kraft und wieder hergestellte gesundheit wünsche ich dir.

    Sabine Scho umarmungen. mensch, alban, was machst du durch, mir fehlen und fehlen die worte und ich denke an dich.

    Cat Car Gute Besserung! ??

    Norbert Grünewald Wie hast Du das geschafft?

    Klaus Knattenberg yo, raus damit. und gute besserung! makroskopischer magen. lese gerne den blog, klug und ehrlich, so wie gute tagebücher, ohnehin eine der unterschätztesten formen. und dann mit otterkopf in die reha, den hat meine tochter immer noch präsent.

    Andreas Werner …ist denn wirklich alles Innere interessant genug, um es derart öffentlich nach außen zu tragen?

    Alban Nikolai Herbst Das Private ist politisch. Und bevor Sie so fragen, l e s e n Sie doch einfach erstmal, anstelle immer gleich die Urteile parat zu haben, die Ihnen Ihr Leben allzu kommod machen. (Das Bild steht in einem poetischen Zusammenhang. Es bezieht sich selbstverständlich a u c h auf geglaubte Anthropologie.) (Allerdings hat’s mich eh schon gewundert, daß noch niemand genölt hat.)

    Reni Ina von Stieglitz @ Andreas Werner …wenn Sie die Dschungel.Anderswelt gelesen hätten, die Berichte aus der Nefud, sprich: sich mit dem Krebstagebuch, emotional beschäftigt hätten, würden Sie diese “Abbildung”, sprich: EntEinigung, möglicherweise verstehen..

    Andreas Werner @ Reni Ina von Stieglitz ich habe mich damit beschäftigt! Mag aber diesen pathologischen Exhibitionismus in Bildern nicht!! Und ich glaube auch nicht an dessen Relevanz; außer für einen selbst…und das wäre ja dann auch hinreichend! Das Poetische erfährt da, selbst unter diesen Umständen, seinen Verrat!

    Alban Nikolai Herbst Ich diskutiere das gerne weiter (inkl. Ihrem wahrscheinlich int4rnalisierten quasi-religiösen, genauer: monotheistischen Bilderverbot) – aber nicht hier, sondern direkt in Der Dschungel. Und werde ohnedies diesen Kommentarbaum in Die Dschungel hinüberkopieren – “einfach”, damit er nicht verlorengeht.

    Reni Ina von Stieglitz @ Andreas Werner ..es handelt sich schlichtweg um die Abbildung eines entnommenen Organs samt einiger Anhängsel…als, ich nenne es mal so: Darstellung der “Krebsin” , die nun weg ist..in der Konsequenz empfinde ich diese Vorgehensweise als schlüssig..
    Löschen oder verbergen

    Florian Voß ein brutaler schnitt rechtfertigt ein brutales foto, finde ich.

    Andreas Werner @ Florian Voß es ist die Frage, inwieweit die Öffentlichkeit derartige Teilhabe braucht. Das Private mag politisch sein, was an dem Foto ist aber das Politische! Das ist doch alles ein mega Gesülze ohne tieferen Sinn, sorry! Aber soziale Medien rechtfertigen ja mittlerweile alles, auch das sicher Erträgliche, das sich selbst entwürdigt

    Sabine Scho ich empfinde es als einen akt der aufklärung, es hilft. es hilft, zu sehen, es geht weiter, auch wenn der magen fehlt oder anderes. ich finde es tatsächlich hilfreich. Und relevant.

    Alban Nikolai Herbst @ Andreas Werner Ach je, Herr Werner. Der Kleingeist, leider, b l e i b t deutsch. Schon Ihre “Sprach”wahl (“m e ga Gesülze”) zeigt dies. Aber vielleicht fehlt Ihnen einfach die Bildung – ein Umstand, den die wenigsten Menschen selbst verschulden. Auch Ihnen gestehe ich das selbstverständlich zu.

    Sabine Scho es ist ganz einfach mit musil zu beantworten, dass alban etwas absolut richtiges und wichtiges macht: kunst zeigt das, was noch wenige gesehen haben.

    Andreas Werner @ Alban Nikolai Herbst klar, alles eine Frage der Bildung, nicht des Diskurses! Eine Antwort auf die Frage, was an diesem privaten Foto politisch ist, bleiben Sie gleichwohl schuldig! Ich sortiere das mal nicht unter Bildungsdefizit ein, eher unter HilflosigkeitHieronymus Pedelec Herr Werner, es ist doch ganz einfach: Wenn es Ihnen nicht behagt, gehen Sie weiter. Es handelt sich um eine künstlerische Form der Verarbeitung. Das Leben ist nicht immer schön, und manchmal muss man auch die hässlichen Seiten zeigen.

    1. Erstaunlich allerdings, wie sehr im Rahmen sich der Protest, insgesamt, hält – so sehr, daß ich Herrn Werners Mut durchaus achte, der ihn sich derart weit gegen das Schweigen anderer aus dem Fenster lehnt. Auch wenn ich – fast hätte ich “maturgemäß” geschrieben – völlig anderer Meinung als er bin, hat er in jedem Fall meinen Respekt.

          1. Alles gut..kann passieren..Manchmal schreiben Tastaturen ja auch, als seien sie “fremdgesteuert”..schmunzel..

    2. Michael J. Stephan @ Andreas Werner polemisch immer eine gute frage. doch hier: konzept, zumal mit dem scharfen schwert der worte. der herbst macht ALLES zum werk. und dafür lieben wir ihn, übrigens.

      Andreas Werner @ Michael J. Stephan Alles zum Werk! Genau das ist das Problem…da wird – auch wenn ich alles rund um die Krankheit respektiere und verstehe – die Prosa zum Absurdikum! Und es entsteht eine würdelose Aufdringlichkeit

      Alban Nikolai Herbst @ Andreas Werner Ob Sie wohl jemals den Grad m e i n e r Würde erreichen? Fraglich. Sehr, sehr fraglich. Und komisch, daß dem Knausgard nicht verübelt wird, was bei mir sofort alle Kleinstbürger aufschreien läßt. – Haben Sie jemals ein Buch von mir gelesen, geschweige denn verstanden? Ah, stimmt, zu letzterem können Sie, wenn nicht, ja gar nichts sagen. Doch wieso schauen Sie sich hier meine Sachen überhaupt an? S i e haben die “Freundschafts”anfrage gestellt, nicht ich. Also lösen Sie unsere Verbindung doch einfach wieder; niemand hält Sie davon ab.

  5. Lieber ANH, lassen Sie sich keinesfalls den Mund oder das Auge verbieten – im übertragenen Sinne. Ich bin dankbar dafür, dass Sie uns auf eine Reise zu den Outskirts des menschlichen Lebens mitnehmen. Bleiben Sie gesund.

  6. Mich hat das Bild auch sehr berührt, da unerwartet: erschüttert. Aber es hat auch etwas beantwortet, was diffus, mal unterschwellig, mal oberschwellig begleitend mitlief: das tatsächlich physische Ausmaß, dessen was entfernt wird. Und es hat mich geradezu physisch (nach)empfunden berührt, angerührt, dass da noch so viel heil Aussehendes, Vitales war. Dass ein eigentlich in großen Teilen immer noch intakt wirkendes Organ explantiert wurde. (Vorsichtshalber, ich weiß). Die heilen Bereiche waren doch ersichtlich. Da ist auch Trauer, die ich nachempfinde. Der sinnlich wahrnehmbare Anblick schafft eine weitere Dimension des Verstehens, die ich für überaus wertvoll erachte.

    1. Das ist interessant, mein erster Eindruck war ähnlich.

      Ich hatte in meiner ersten Ehe zwei Schwägerinnen, die Magenkrebsn hatten. Bei einer wurden nur Teile des Magens entfernt, also offensichtlich waren auch damals vor fast zwanzig Jahren die Mediziner der Ansicht, das reiche aus. Ein halbes Jahr später ist sie verstorben.

      Bei der zweiten Schwägerin wurde der gesamte Magen zwei Jahr später entfernt. Sie lebt noch heute, kommt gut klar, obwohl sie bei Ernährung und Verdauung nun, aufpassen muss.

      Ich war nahe dran gewesen, dieses Wissen hier mitzuteilen, doch jeder Fall ist anders, und es gibt wenige gute Fachleute im Internet als solche, die sich dafür halten.

      Ich fand auch jetzt, das Foto zeigt ein toll gesundes Organ, was da entfernt wurde bei Herrn Herbst.

      Doch seine bekundete Vitalität insgesamt nach so einer schweren OP hier jedenfalls öffentlich im Blog lässt eigentlich nur eine Einschätzung zu: Das muss alles richtig gewesen und er kann sich sicherlich noch lange des Lebens erfreuen.

      Man kann auch sagen: Diese Krebsin hat nichts anderes verdient. lol, Poetik hin, Poetik her.

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