Arbeitsjournal. Dienstag, der 16. Dezember 2008.

5.39 Uhr:
[Arbeitswohnung. Bach, Partiten für Violine (ff). Latte macchiato.]
Ich denke wieder viel über >>>> Mißbrauch nach – und wie weit und fern seine Folgen wirken, ist nur die Erfahrung früh, d.h. tief genug ins Ganglion geprägt und hat sich durch möglicherweise einen zweiten, könnte man sagen:, „bestätigt“, so daß ein (berechtigter) Rachegedanke hinzugekommen ist, der den Mißbrauch einerseits sich strukturell wiederholen, aber den Täter zugleich auch bestrafen läßt: das hat dann etwas von Polizisten, die selber zu Verbrechen verleiten, um die Verbrecher während der Tat dinghaft zu machen. Wohlgemerkt, ich spreche nicht von bewußten Prozessen, es ist keine Schuld bei dem, aber ein, letztlich, großes Unglück. Das ist der e i n e Gedanke. Der andere müßte versuchen, eine Person zu erklären, die sich von heute auf morgen völlig verändern kann, und das meint auch den Körper, nicht „nur“ die Seele; eine Person, die zu einer Mimikry imstande ist, mit der sie ihre jeweils neuen Partner einfängt, daß man vermeint, sie habe dieses und jenes schon immer so gewollt und es sei ihr tiefstes Inneres. Daran ist etwas Unheimliches, fast Dämonisches; es sieht für den neugewollten Betroffenen aber nach etwas aus, das von den Göttern berührt worden ist; anderswohin schaut aber eine Fratze. Es hat überdies etwas von >>>> Lan-an-Sìdhe, der ich bereits im >>>> WOLPERTINGER einen großen Auftritt gegeben habe, genau in jener Spannung aus Faszination und Furcht, die ihre Erscheinung so berauschend und einen von ihr abhängig macht.
Der Profi, mit dem ich gestern abend noch in der Bar sprach, hat mich gefragt, ob ich sein Auto haben wolle, während er verreist sei; er fährt für fünf Tage bis über Weihnachten fort und macht sich Sorgen, was ich denn tun werde in dieser nun einmal wieder furchtbaren Zeit. Ich habe abgelehnt. Was soll ich mit einem Auto? Er meinte, er gebe mir gern auch den Schlüssel fürs >>>> Häuschen am Döllnsee, falls ich mich zurückziehen wolle. Davor habe ich aber nun wirklich Angst. Es ist dunkel da dann am See, und um es mir in dem Hotel nahebei einigermaßen angenehm zu machen, habe ich nicht das Geld. Ich will auch nicht nachts auf den See starren. Es wäre, ich sag’s mal s o, keine Arbeitssituation, die sich aushalten ließe. Das Beste wäre, ich würde die Nacht einfach durchvögeln, – >>>> durchficken träfe die Intention besser. Doch meine Überlegung geht momentan dahin, mich bei einem Krankenhaus zu melden und zu fragen, ob ich am Heiligenabend Zivi-Dienste verrichten darf. Irgend sowas jedenfalls. Das Protokoll einer untätigen Depressionsheilignacht h a b ich ja schon geführt, d i e s e von mir >>>> bewußt durchinszenierte Erfahrung hab ich gemacht und abgehakt; das braucht keine Wiederholung. Doch da hat es das Cello noch nicht gegeben; meine Arbeitswohnung ist von lauter Wohnungen umgeben, in denen junge Leute wohnen; die werden anderswo feiern.

Alles konnte nicht schlimmer laufen, als es gestern lief. Ich muß nun handeln, aber weiß nicht, wie es das am wenigsten Schlimme ist. Mir wird aber klar, weshalb die BAMBERGER ELEGIEN noch nicht fertig sein k ö n n e n, es muß auch dieses jetzt seinen Reflex darin haben; es darf bei der Verklärung nicht bleiben. Sie ist nötig, aber um wirklich Ambivalenz einzufangen, dazu fehlte es noch dieser neuen alten Erfahrung, des Alten in seiner permanenten, aber varianten Wiederholung. Wiederum, hätte ich (bereits?) >>>> die meditative Haltung, ich könnte die Ambivalenz erst recht nicht einfangen, ich muß immer erstmal selbst durch alles geradezu leiblich hindurch, bevor ich mit Fug und Recht Dichtung daraus machen kann. Dieser Gedanke gibt mir viel Sicherheit.

Ich fange wieder mit dem frühen Aufstehen an: gestern um zehn vor sechs, heute um fünf, morgen wieder um halb fünf. Strukturen wieder herstellen. Es ist ein Arbeitsbündnis mit mir selbst. Um acht will ich ans Cello für eine Stunde, dann muß ich zum Unterricht nach Charlottenburg radeln, danach dann ganz schnell, um einen dringenden Amtsgang vorzunehmen, wieder hierher zurück. Dann mittagsschlafen und meine Kritik zur Kinderoper schreiben, die ich gestern nicht schaffte, so gelähmt. Zugleich muß ich mich an die Steuererklärung setzen, für die man mir eine Frist bis zum 28. gesetzt hat; ich meine, das wäre a u c h eine Beschäftigung für Heiligabend, da kann ich dann meinen Frust in Wut transformieren. Und ich habe ja alle Musik, die ich brauche, hier.

Sich neben sich selbst stellen und sich selbst beobachten, die eigenen Emotionen einfach nur beobachten und was sie mit einem machen. Eigentlich ein Ansatz, der mir nahe ist, der für mich immer schon literarisch das Experimentierfeld gewesen ist. Aber vielleicht das Literarische daran einfach mal zusätzlich mit hinwegdenken. Es ist ja doch der sich permanent wiederholende Vorwurf: Für dich ist alles nur Arbeit.

(Ziemliche Schwierigkeiten, heut früh per Funk ins Netz zu kommen. Alles geht extrem langsam.)

2 thoughts on “Arbeitsjournal. Dienstag, der 16. Dezember 2008.

  1. jahrelang habe ich heiligabend damit verbracht, die geschenke meiner neffen und nichten zusammenzubauen, die sich aber erst, sobald zusammengebaut war, wieder in der geschenkegruft blicken liessen. andererseits, so hatte ich meine ruhe an einem abend, der mir erst vor zwei jahren nochmal zeigte, wie wenig die menschen, die ich ja mag, mit meinem leben zu tun haben und ich mit ihrem. das ist irgendwie traurig, aber auch nicht zu ändern. trotzdem werde ich das gefühl nicht los, als wenn ich die schuld daran trage, ich bin ja diejenige, die weg ging, erst studieren, dann in die großen städte. es verläuft immer gleich. mein bruder brüstet sich mit den heldentaten eines lokalen platzhirschen. mein neffe und meine nichte lassen das genau so stoisch über sich ergehen wie ich, meine schwester sekundiert hin und wieder, und meiner mutter ist es etwas peinlich. irgendwann platzte mir mal der kragen. meine schwester war hoch erfreut nun endlich mal zu erfahren, was eigentlich an untertext bei mir mitläuft und sucht seit dem wieder den kontakt. sie besucht mich mit ihrer tochter nächsten februar. ich habe gemischte gefühle. ich wuchs ja quasi ohne meine geschwister auf, die so viel älter sind. es ist vielleicht kein wunder, dass man sich nicht sehr nah ist.
    als meine schwester krank wurde, hatte familie auf einmal einen ganz anderen zugriff auf mich. sie rückte so nah heran, wie sie lange nicht war. ich bekam panik, ich sah mich auf einmal an menschen gebunden, mit denen ich mich nicht sehr verbunden fühle, aber wenn es das schicksal so will, verbinden einen wohlmöglich die gene. ich war sehr verdattert, dass meine schwester zuerst mich anrief und weinte und weinte. sie hat nicht geahnt und sicher nicht gewollt, dass sie mich in eine krise stürzte, wie ich sie bis dahin noch nicht kannte. dazu fühlte ich mich schlecht, weil ja sie und nicht ich krank wurde. was hatte ich für ein recht, mich zu fürchten, in einem moment, wo nichts als trost gefragt war. ich versuchte irgendwie eine lehre daraus zu ziehen. die geht mir aber bis heute ab, ich bin nur froh, dass viel glück im unglück dabei war, und dass es vorbei zu sein scheint.

    ich habe bis vor zwei jahren nicht über kinder nachgedacht, ob ich sie will, ich hab auch nicht darüber nachgedacht, ob ich sie nicht will, aber ich hab sie achtzehn jahre konsequent verhindert. ich denke nun das erste mal darüber nach, dass, wenn ich wollen würde, nicht mehr ganz so viel zeit bleibt. einen dringenden kinderwunsch verspüre ich bis heute nicht.
    ich habe auch angst, es ginge mir vielleicht ein bisschen wie dem vater in bachmanns erzählung ‘alles’, der beobachtet, wie sich sein kind in all das einübt, was er doch eigentlich verachtet. wie die hoffnung darüber stirbt, der neue mensch könnte es mal anders machen. wie dieser neue mensch aber all das wiederholt, was man hoffte, dass er es nicht tun würde. und wie er merkt, dass man nicht umhin kann, dem kind in die gesellschaft zu helfen, wie barbarisch es ist, das zu unterlassen. dennoch hatte ich große empathie für diese vaterfigur. eher als für die mutter. er ist der beobachter, er greift nicht ein.
    mir scheint, ich war die einzige, die partei für ihn ergriff, obgleich die erzählung das nahe legt. am ende steht die erkenntnis, lern du selbst. du musst es selbst tun, nicht dein kind.
    ich erinnere, wie mir x nach ihrem treffen mit ihrem ex, der mit ihr kunst studierte, erzählte, wie er auf die frage, ob er noch künstlerisch tätig sei, sagte: meine kinder sind mein größten kunstwerke. das ist absurd. kinder sind niemands kunstwerke.
    und die tatsache, dass sie in vielen teilen der welt arbeiten, wird verdunkelt durch eine politik, die sie nicht für mündig erklärt. so dass sie zb keine tariflöhne einfordern können, sondern versklavt werden. kinder sollten nicht arbeiten, nein, aber wo sie es tun, sollten sie wenigstens ein mindestmaß an ‘gerechtigkeit’ einklagen können. hier und jetzt.

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