DTs. (24. Dezember 2004). Heiligabend.

4.41 Uhr:
[ Janáček, Die Sache Makropulos.]

Das wird jetzt also dieser Tag. Kurz nach halb fünf hoch, Ofen besorgt, die Pavoni zischen lassen, Heiter trälltert die Pavoni in die sonnige Höh’, frei nach Eichendorff, den ich mal so geliebt habe, daß ich die Winckler Dünndruckausgabe hier stehen habe; manche Lieben rächen sich. „Du hast ein intensives Leben“, sagte die Künstlerin, mit der ich noch ein Bier trinken war, gestern nacht, bevor wir auseinandergingen und ich durch diesen plötzlich so warmen, regnerischen Prenzlauer Berg heimradelte, S Schönhauser, Pappelallee, Stargarder. Drum also die Pavoni wieder für eine Maschine nehmen, die eine Art Kaffee bereitet, und zurück an den Romantext.
Das waren, wollt’ ich eigentlich schreiben, wüste, verschlungene Träume gewesen, als ich erwachte. (Und das komische Design des tisch 7-Frühjahrs-Programms will mir nicht aus dem Kopf: So viele Schnörkel in der Schrift, so viel wahrscheinlich kluge, weil wirkende, mir aber seltsam zu verspielte, nämlich so ironisch-kitschige Vorstellung eines Buches, das eigentlich hart ist.)






Tagesplanung.

5 Uhr:

ARGO.

10.30 Uhr:

DIE DSCHUNGEL.
ARGO.
Paar Einkäufe tätigen für die nächsten beiden Tage.

12 Uhr:

Mittagsschlaf.

13 Uhr:

DIE DSCHUNGEL.
MF. (Endlich mal anfangen.)

18 Uhr:

ARGO.

20 Uhr:

Wein bei Eisenhauer.

22.30 Uhr:

Treffen mit Tomiak und einer Freundin auf einen anderen Wein; wahrscheinlich wird Eisenhauer mitkommen.

7.14 Uhr:
[Schreker, Irrelohe.]

Wie mir, während ich an weiteren Erissohn-Versen feile, die nun zum ersten Mal in den erzählten Fließtext übergreifen, selbstverständlich in Brem hinein, eine Art rhythmischer Virus, der schließlich den Gesamttext völlig erfaßt haben soll, ein paar hundert Seiten später… wie mir unvermittelt der Gedanke vor Augen steht, daß mein kleiner Sohn nächstes Jahr wird möglicherweise selbst entscheiden können, bei wem er den Heiligabend verbringen möchte, daß er vielleicht “lieber bei der Mama” sagen und daß das letzte Jahr vielleicht tatsächlich das letzte Jahr gewesen sein wird, in dem ich dieses mir immer wichtig gewesene Fest beging.

(Auffällig übrigens, daß ich nicht weiß, wie das erstinstanzliche Gericht wegen des verbotenen Buches am Dienstag, dem 21. 12. entschieden hat; da war Verkündigungstermin. Daß mich das so wenig interessiert, obwohl mir der Roman, dessen Titel ich nicht einmal nennen darf, überaus wichtig ist. “Das darf man nicht zulassen”, sagte neulich eine Freundin, die das Buch irgendwo aufgetrieben und gelesen hatte, “daß ein solcher Text den Lesern vorenthalten wird.” Womit sie das begründete, darf ich ebenfalls nicht schreiben, weil das als Werbung ausgelegt werden könnte.)

12 Uhr:

Schon ein komischer Tag. Wie oft, wenn ich hilflos bin, schäumt in mir das Testesteron und unterwäscht sogar die Arbeitsdisziplin. Also von ARGO weg auf Porno-Sites, da herumgesurft, zwei Foren offen, parallel Filmchen guckend. Das Beste, um mit diesem Heiligabend fertigzuwerden, wäre eine Gruppensex-Party. Nur woher nehmen auf die Schnelle? *Lacht auf.*
Ich muß mich richtiggehend zwingen, etwas zu essen, mußte mich zwingen, etwas einkaufen zu gehen. Zugleich jagt sich in meinem Kopf die ARGO-Szene, die ich heute morgen begann: Ich bin fast am Ende mit „Skamander“, habe Lough Leane erreicht, noch einzwei Kapitelchen, und dieser ganze zweite große Romanteil s t e h t. Das ist jetzt die C o d a. Mist. Nicht zu fassen, daß mir da ausgerechnet der Unterleib einen Strich durch die Rechnung macht. „Hand an sich legen“ bekommt eine völlig neue Bedeutung; immerhin eine, die l e b e n will. (Wär auch ein nettes Paralipomenon. Mal gucken.)
Das Eierwasser kocht.

17.19 Uhr:

Nun lern ich das Gefühl d o c h richtig kennen. Absolut keinen Bock zu arbeiten, surfe nur herum, von Brüstchen auf Mös’chen usw., sitze noch immer ungewaschen am Schreibtisch, war eben zwei DVDs besorgen (zwei Horror-Thriller, ein japanischer dabei, damit das Ganze auch rund wird), und die Leute kamen aus der Kirche; die zweidrittel Berliner Gastronomie hat geschlossen, aber das wär ja nun auch n o c h schlimmer. So hab ich – Regression, ich grüße Dich – neben mir den Eierlikör, der entsetzlich backig süß schmeckt und betrachte das alles als eine Art Feldforschung: Irgend einem Text wird das guttun, dieser Beruf ist ein Segen. Das Internet im übrigen auch. Jedenfalls in diesem Phalle.
Eisenhauer hat kurzfristig abgesagt für den Abend, er reist schnellentschlossen zu seinen Eltern, die er, wie er am Telefon sagte, jahrelang nicht gesehen habe. So bin ich froh, doch wenigstens Hähnchenschlegel eingekauft zu haben für den Abend. Ich sollte arbeiten, aber es geht nicht.

(Übrigens, meine eigene Schuld: Ich war ja bei verschiedenen Freunden eingeladen, aber w o l l t e nicht Weihnachten feiern, ohne Kind, ohne die Frau. Insofern besteht zu klagen kein Grund; es ist meine Entscheidung.)

20.15 Uhr:

Und dann noch ein mieser SMS-Wechsel mit der Mama meines Jungen, die sich über das kompliziert zusammenzubauende und angeblich lebensgefährliche Geschenk aufregt, das ich ihm gemacht habe. Es habe zuviel Zeit gekostet, es zusammenzubauen, er „bekommt schließlich auch noch andere Geschenke“. Es ist einfach nicht zu fassen. Das Essen sei verkocht. Ich weiß nicht, soll ich trauern, soll ich schreien.

Nachtrag:

Der japanische Horrorthriller INUGAMI, den ich dann noch am Laptop sah, erwies sich als ein hochpeotischer, wundervoll ruhig erzählter und wirklich sehr japanischer Spielfilm von großer Kraft; das ist phantastische Literatur in Bildern, wie Masato Harada, der Regisseur, die Seelen seiner Figuren sie Personen werden läßt, wie hier Verfallenheiten, Unablösbarkeiten deutlich werden. Die Hundsgötter, um die es als einen Familienfluch ging, der zugleich Familienehre ist, erschienen nie anders als durch eine Ballung der Wolken am Himmel, durch einen Ohnmachtsanfall, durch eine nie weiter erzählte und sehr stille Familienträgodie, die sich bis zuletzt weitererfüllt; sogar eine Inzestgeschichte läuft gewittrig und rührend und unabwendbar unter der Geschichte mit, die fast nur in Andeutungen Horror wird; der Horror selbst ist eine meteorologische Instabilität, er läßt sich auch als etwas zwar Ungewöhnliches, aber doch letztlich Normales begeifen, weshalb das Geheimnis letztlich nicht nur Geheimnis bleibt, sondern in der Gestaltung dieses Filmes eigentlich auch erst wird.

Nach zehn schellte die Tomiak. Wir zogen in eine leere Bar am Helmholtzplatz, redeten lange, lange, ich hatte bereits eine Flasche Wein intus. Die Liebe, ihre, meine, die unabwendbare, fast tragische Dynamik des Prozesses um das verbotene Buch, das Treffen am Weihnachtsmarkt, der SMS-Wechsel vorhin. „Was muß diese Frau dich lieben!“ war der Satz, mit dem sie mich vor der Duncker aus dem Gespräch entließ. Das geht und geht nun in mir nach, weil es zugleich eine stille, eine deshalb hoffnungslose Hoffnung nährt, weil sie zugleich – realistisch, also pragmatisch betrachtet – das Ende besiegelt.

Arbeitsfortschritt:
ARGO, bis TS 169.