An Land. PP231, 26. September 2014: Freitag. Erste Notate zu Thomas Pynchons Bleeding Edge.

[5.21 Uhr, Arbeitswohnung.
Widmannn, Lied für Orchester (2003/2009).
Latte macchiato, Morgenpfeife.]

Aus Nachbars Lärmschutzgründen: Kopfhörer. Ärgerlich ist daran nur der gebrochene Haltesteg meiner Staxes. Andererseits habe ich ohnedies die Kapuze der häßlichen, aber wärmenden Alpakajacke drüber; das hält dann nicht nur warm, sondern die Kopfhörer gleichfalls. Ich will mich noch einmal durch alle Konzerte des Berliner Musikfestes, die erlebt habe, durchhören, wenn ich mit diesem Zeitverzug über sie schreibe.
Es ist Herbst über den Roman geworden; ja, ich muß mich morgens bereits wirklich einpacken: Die Berliner Nächte gehen bereits locker auf elfzwölf Grad hinunter. Ich will aber vor November auf keinen Fall heizen; der nächste Damenbesuch wird leiden müssen. Schimpfen Sie nicht, Freundin. Sie sind ja unbetroffen.
Denn also, ich bin von Bord gegangen. Ich habe das Traumschiff verlassen, wenn auch nur für einzweidrei Wochen. Bis die Rückmeldungen der Freunde, vor allem des Lektors eingegangen sein werden, den ich immer meinen nenne. Im wallenden hellen Mantel über dem hellen Anzug schritt er gestern meinem hellen Anzug unter meinem wallenden hellen Mantel entgegen. Sollte er sagen, der Lktor, ja, das ist was, begäbe ich mich mit äußerster Ruhe wieder an Bord und ließe, nachdem der Anker neu gelichtet ist, bzw. die Vertäuung von der Pier gelöst, zuversichtlich Kurs auf >>>> den Verlag nehmen.
Dies, die Musik, ist, Freundin, immerhin die erste Insel seit knappen zwei Wochen; die zweite wird das Hörstück sein. Aber das ist nun zu sagen, wie seltsam, wie höchst seltsam Romane entstehen! Denn die knapp fünf Wochen, die es bis zur jetzt herausgegebenen Ersten Fassung brauchte, scheinen nur so kurz zu sein. Das erste Mal erwähnte ich das „Sterbebuch“ >>>> am 21. Mai 2012, den „Sterberoman“ etwa >>>> drei Wochen früher; im Herbst vergangenen Jahres konnten Sie hier in Der Dschungel erste Versuche lesen. Bereits >>>> im Februar 2012 taucht der Name Traumschiff auf. Da lag der eigentliche Anstoß, >>>> Lissabon, fast schon ein Jahr zurück. Wie hat sich beim Bild dieser Stadt bei dem zweiten Besuch gewandelt! Nun gibt es für sie im Buch eine kleine Hommage. Aber nach dem ersten, ich erinnere mich, saß ich depressiv auf dem Achterdeck – bis mir die Idee zu dem neuen Buch kam. Was wäre, wenn an Bord – ? Noch, da, wußte ich selbstverständlich von Gregor Lanmeister nichts. Aber versuchte bereits, ihn mir vorzustellen. Selbstverständlich hatte ich ein „Urbild“. Ich sprach zwar manchmal mit ihm, wußte aber nicht, daß er es war. Später wollte ich es ihn sein lassen. Und dann wurde es, wie es mit solchen Urbildern immer ist. Es entfernte sich, und eine ganz eigene Person tritt in die Imginationswelt, in der sie sich eigen entwickelt. Heute hat sie mit dem Urbild nicht mehr sehr viel zu tun, trägt imgrunde nur noch seinen Vornamen.
Jedenfalls war ich etwa zweieinhalb Jahr mit dem Roman bechäftigt, bevor ich die ersten Zeilen schrieb. Daß ich ihn ein weiteres halbes Jahr später in quasi einem Schwung niederschreiben konnte, hat genau damit zu tun. Künstlergehirne, aber möglicherweise alle Gehirne, arbeiten vor sich hin, auch wenn man es nicht merkt. Sie arbeiten quasi unter einem hindurch. Wobei man von diesem Prozeß bisweilen Symptome mitbekommt, zum Beispiel einen Leistenbruch, Mutlosigkeit, Impotenzängste; schlichtweg, weil man, ohne es zu merken, zu seiner eigenen Figur wird. Man braucht diese Nähe. Aber sie macht einen auch fertig. Und wie! Das kann ich Ihnen sagen. Will man da nicht versinken, wird es irgendwann Zeit, sich von ihr zu emanzipieren. Das braucht einen gewaltigen Selbst-Ruck, den ich die >>>> Sichzusammenreißung genannt habe. Die Niederschrift eines Romans ist dafür eine ziemlich gute Option. Ich habe aber Angst vor ihm gehabt und das auch einige Male in den PPs so gesagt, und davor in den Arbeitsjournalen. Das war nicht kokett.
Was nun die benötigte Nähe anbelangt, so entstand schon mein allererster Roman so, das >>>> Dolfinger-Buch, das ich damals Die Erschießung des Ministers nannte – ein Titel, der sich bis übers Erscheinen hinaus nicht durchsetzen ließ. Damals jobbte ich für ein privates Rechenzentrum und hatte mit dem dortigen Buchhalter riesige Probleme. Ich löste sie, indem ich mich in ihn hineinversetzte und „seine“ Geschichte schrieb, eine mögliche, nicht die tatsächliche. Erscheinen konnte der Text erst acht Jahre später. – Mein „allererster“ läßt den allerallerersten, sogar den allerallerzweiten aus. Die beiden Typoskripte, der eine mit fünfzehn geschrieben, der andere mit sechzehn, stehen hier nach wie vor in Leitzordnern; ich habe es nie fertiggebracht, sie in den, wohin sie wahrscheinlich gehören, Papierkorb zu werfen.

Der >>>> neue Pynchon ist gekommen; Rowohlt wahrscheinlich hat ihn mir über die Verlagsauslieferung zuschicken lassen. Ohne irgend einen Kommentar. Ich war verwundert, habe aber nicht anders können, gestern abend, als bereits die ersten siebzig Seiten zu lesen:

Faszinierend perfekt geschrieben. Momentlang geriet ich wegen des Traumschiffs in Zweifel: War es richtig, auf die ausgefeilte Stilistik meiner Hypotaxen zu verzichten? Diesen „einfachen“ Weg zu gehen?
Ich sprach, Freundin, mit der Löwin darüber. Sie beruhigte mich. Und sowieso habe ich ein anderes Thema – „gehabt“, muß ich nun fast schon schreiben. Jedenfalls hart aufeinandergeschnittene, perfekt aufeinandergeschnittene Szenen und Dialoge, zudem extrem dicht auf der Zeit und ihrem wichtigsten, neben dem Klimawandel, Thema. Dazu stilistisch die Stadt New York nachgestellt; mehr noch, die Stadt – so kommt es mir in dieser frühen Lesephase vor – ist der Stil des Buchs. Es gibt rein keine beschreibenden Stellen mehr, sondern Beschreibung ist selbst schon Plot, geht nahtlos in ihn über und wird Action, sowie umgekehrt. Dafür verzichtet der Roman aber, jedenfalls bisher, auf die für Pynchon typische mythische oder quasi-mythische Dimension. Gleichsam mutet er realistisch wie ein Spielfilm an, der allerdings mit elaboriertester Ästhetik des Simultanen geschnitten ist. Das ist mir nah. Und doch, mit dem Traumschiff, wie fern ist es geworden!
An zweidrei Stellen angefragt: Rezension? Bei zweien abgerutscht, die dritte sagt „Gerne, aber vielleicht“. Natürlich bin ich mal wieder zu spät. „Einfach so“ kann ich mir die Lesezeit momentan kaum herausschneiden. Ich habe eh noch ein anderes Buch zu rezensieren. Was mir an tiefstem Herzen liegt. Kommt im Dezember. Vorher sag ich nichts dazu.

Nun aber, Freundin, an die Musikerzählung. Wie Sie lesen, ist mein frühes Aufstehen fast schon wieder eine Konstante. „Daß Künstler so viel arbeiten müssen!“ rief die Löwin gestern aus, quer durch Facetime zu mir her. „Wer hätte das gedacht?“ – Wir. Wir haben es gedacht. Es von Anfang an gewußt. Wir sind nicht auf der Welt, um uns Häuschen zu bauen, in deren Gärten wir sitzen. Die meisten andern Menschen schon. Das ist keine Wertung, sondern einfach eine Beschreibung: Etwas, das ich lernen mußte und immer wieder lernen muß.

[Wolfgang Rihm, In-Schrift 2 (2013).]
***

[12.55 Uhr.]

So, die Kritik >>>> steht drinnen. War bißchen Arbeit. Bin etwas müde, vielleicht habe ich Tippfehler übersehen. Aber mich erst mal hinlegen deshalb und eine Stunde schlafen.
*

5 thoughts on “An Land. PP231, 26. September 2014: Freitag. Erste Notate zu Thomas Pynchons Bleeding Edge.

  1. bei dichtung ist das ja alles ganz anders, da hat man (meist) keine figuren. vielleicht ist mir darum romane schreiben oft so fremd, ich habe immer gesagt, allein, dass die namen haben müssen, wäre mir eine markierung zu viel. ich frage mich jetzt, woran leidet man beim dichten und wovon muss man sich da emanzipieren? vielleicht gar nicht, wenn man sich an den schlachtruf “poesie als lebensform” hält?

    1. @diadorim zu Roman und Poesie. Die Grundlage jedes Romans ist es, nach wie vor, Geschichten zu erzählen. Da sind sind sich E-Romanciers und Unterhaltungsschriftsteller, deren es sehr sehr gute gibt, bis zum Landserheftchenautor herunter näher als Erzähler und Dichter:innen von Gedichten. Dennoch kann es lyrische Passagen und sollte es, meine ich, durchrhythmisierte geben in Romanen; das meint jetzt die Klanglichkeit, also Musik der Erzählung. Umgekehrt wird in manchen Gedichten, denk an Balladen, ganz ebenso erzählt. Es ist aber nicht das Hauptmerkmal – von den frühen Epen abgesehen, die deshalb heute lyrisch genannt werden, weil sie schlichtweg memoriert werden mußten. Das geht vor allem bei diesen Umfängen bei Versmaß und Reim besser als in ungebundenen Versen. Wahrscheinlich ging es überhaupt nur damit. Seitdem “wildern” wir, und mit Recht, gegenseitig in unseren Domänen. Aber daß wir sie auflösten, ist Augenwischerei. Tatsächlich gehe auch ich, wenn ich ein Gedicht schreibe, mit einer völlig anderen Haltung daran, als wenn ich einen Roman oder eine andere Art von Erzählung schreibe. Wobei “Poesie als Lebensform” wohl nur dann gilt, wenn sie, die Poesie, einen bestimmten Grad von Ausschließlichkeit angenommen hat. Poesie als Lebensform hat etwa bei Benn ganz bestimmt dann nicht gewirkt, wenn er seine Patient(inn)en empfing und ihnen zu helfen versuchte. Rilke wiederum dürfte sie auschließlich bestimmt haben, so auch bei Allan Ginsburg, um von der großen Emily Dickenson zu schweigen.
      Aus meiner Sicht, bzw. für mich, zeichnet den Romancier die Lust und auch Sucht danach aus, in sich schlüssige Welten zu bauen, wie nah sie auch immer unserer sogenannten Wirklichkeit sein mögen. Sie haben eine Neigung zur Totale, indessen Lyriker:innen eine dazu haben, Momente herauszunehmen und entweder ihren Klang auszuhorchen oder ihnen einen zu geben.
      Daß es bei alledem Überschneidungen gibt, ist so selbstverständlich, wie daß wir alle nie nur wir selbst sind.

    2. durchaus nachvollziehbar, ja. nur, dass mit dem nie nur wir selbst sein, ich denke das ganze irgendwie immer körperlich, präsentisch, und da seh ich erst mal einfach diesen einen organismus, den ich hier und dahin trage, dies und jenes sagen lasse, so oder so kleide, hm.

    3. Nie nur wir selbst. Das ist überaus zentraleuropäisch. Eine Lehre erteilte mir, und sie sitzt tief, in Agra die Tante der Mama meines Sohns. Sie legte eine Hand auf meine Brust und sagte: Wo höre ich auf, wo fange ich an? Ihr waren Körpergrenzen nicht nachvollziehbar. Weil Körper für sie zugleich etwas Geistiges ist.
      In Asien ist mir das oft begegnet, ein wenig auch im Orient.

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