Das lange Arbeitsjournal des Sonnabends, dem 29. Oktober 2010: gleich mit Eckhard Käßmann, wenn auch heftig unter Testosteron. Nachträge nämlich, die über Kater & Sex meditieren und über Imaginationen im Netz. ODER. Semirealität und Schwarze Magie: Kleine Theorie des Literarischen Bloggens (130).

7.59 Uhr:
[Arbeitswohnung. >>>> Wolfgang Rihm, Jagden und Formen (1995/2001).]
Eine ziemlich gute, passende Morgenmusik; auch schon, weil so spät. Wer nämlich gestern nach meinem Arbeitsjournal schaute, konnte keines finden. Das lag an der Nacht davor, von Donnerstag auf Freitag, vor der wiederum >>>> Norbert W. Schlinkert hiergewesen war, um sich mein altes Exemplar verzettelter Träume in sein >>>> Schauerfeld zu holen. Jeder hat sein eigenes, sogar dann, wenn er (oder sie) gar niemals Schmidt gelesen hat, wie jene Frau Körber, die >>>> meine Ontologie offenbarte, nämlich in – ! – Kiel. Kiel, könnte man meinen, hält dazu an: sag mir, wo du lebst, und ich sag, wer du bist.
Nachdem wir also geplaudert hatten, war nicht mehr viel Zeit geblieben, bis >>>> Ricarda Junge kam, doch ganz den Wein vergessen hatte. Wegen meines neuen >>>> Kühlschranks war ich allerdings vorbereitet. So daß wir zu trinken schon mal begannen, und zu rauchen. Ich sag Ihnen, wir mußten hier mehrmals lüften. Und blieben gänzlich gesittet, obwohl wir nicht, wie wir’s eigentlich vorgehabt, ausgingen. Schließlich lagen Bücher um uns, in die wir sahen, aus denen wir lasen. Wir kennen uns lange, an die zwanzig Jahre; als sie zuerst an die Öffentlichkeit trat, tat sie’s im Rahmen des >>>> Jungen Literaturforums Hessen-Thüringen, für das ich damals eine Art Juror auf Schreibseminaren war.
Zweiter Latte Macchiato, Morgencigarillo. Es ist ein deutlicher Vorteil meines Arbeitsjournals, daß ich mich nicht an Form-Konstruktionen halten muß, sondern schreiben kann, wie mir der Schwanz wuchs; das hat einige Freiheit, denn jede Form ist ein Präservativ. So daß Schlinkert erst jetzt von den >>>> Orgelpfeifen von Flandern erzählen kann, dieser, so knapp sie auch gehalten ist, für meine Poetologie entscheidenden Novelle; zwar, Schlinkert erzählte gar nicht von ihr selbst, aber von bezeichnenden Um- und Zuständen. Nämlich habe er sie antiquarisch erstanden und gleich, als er dreivier Seiten geblättert, eine Bemerkung ihres Vorbesitzers gefunden, die ihn doch sehr irritiert habe. Es war Eckhard Käßmann, der Exgatte der Exbischöfin, der mein Motto aus >>>> 2 Könige 9._Buch_der_Könige fett angestrichen und dazugeschrieben habe, sinngemäß, wie ein so kirchenfremder Mann wie ich es wagen könne, ein Bibelzitat zu verwenden. Ich möchte darauf gerne gesondert eingehen, und zwar dann, wenn mir Schlinkert das Exemplar mitgebracht haben wird, damit ich die Seite scannen und für Sie in Die Dschungel einstellen kann. Dann, also, wird es eine „Antwort an Eckhard Käßmann” geben. Der Mann ist in Kirchendingen nicht ohne Bedeutung, und die Kirchen haben Einfluß auf die Politik, vor allem auch auf Kultur. „Aber wie kann sich jemand, der eine öffentliche Person ist, entblöden, so ein Buch mit seinem Stempel darin an den Antiquar zu geben?” fragte dann Junge, aber fragte sich selbst, um sich die Antwort zu geben: „Na klar, die Bücher werden nach der Scheidung bei seiner Frau geblieben sein”, die mir, übrigens, ihrer Haltung zum Afghanistankrieg wegen, ausgesprochen sympathisch ist, „da hat die das ganze Zeug im Paket fortgegeben.” Das ist möglich. Ich hielt den Rücktritt Käßmanns sowieso für grundfalsch; sie ist als Bischöfin nicht schlecht, weil sie betrunken Auto fährt, ebenso wenig, wie wenn sie drei heimliche Liebhaber hätte. – Egal.
Käßmanns, des Exens, Bemerkung macht aber einiges klar über den Zustand auch von Intellektuellen: ihnen wird schnell Unhold, was aus dem Rahmen fällt. Da müssen sie einen Text gar nicht erst genau lesen, um zu verstehen: sie wollen nicht verstehen. Wie etwa auch, darüber sprachen Junge und ich lange, daß es eben nicht meine Dichtung ist, was die Betriebsler zu mir af Distanz gehen läßt, sondern, so erzählte Junge dann, wieder einmal mein angeblicher Machismo. Das sei noch lange Messethema gewesen, daß sie ausgerechnet mit mir („einem wie mir” heißt das) zu dem Verlagsessen bei Fischer erschienen, als wär ich der Unnennbare, der seiner Großmutter drei Haare in jede Suppe tut. Und jede junge schöne Frau, mit der ich erschiene, mache alles noch schlimmer. Wogegen die Löwin, mit der ich den Fall gestern abend kurz besprach, bevor wir im Netz in den Abgrund unsrer Triebe fielen, folgendes hielt: „Nein, das ist es nicht oder nicht nur. Sondern du nimmst die Leute bei Funktion und Wort und läßt sie da nicht heraus. Man muß fürchten, daß du öffentlich machst, was du monierst. Deine Konseqenz macht dich unverläßlich für die Leute, du bist ein permanentes Risiko.” Nur daß diese von mir hergestellte Öffentlichkeit erst, seit Die Dschungel existiert, ein, wenn denn schon, Problem war; doch dieses UnnennbarSein gabe es bereits lange vorher: es hat mich fast seit je begleitet, von Schulzeiten an. „Außerdem gibt es Menschen, die die sehr schätzen, die eben gerade deine Verläßlichkeit schätzen, deine Gradheit.” „Wie kann ich grade bleiben?” fragte dann auch Junge, die ein höchst reizvolles Angebot bekommen hat, eines, das sie und ihr Kind sichern würde, nähme sie es an. „Du bleibst grade, w e n n du es annimmst”, sagte ich, „es ist absolut keine Schande, für Soundso zu arbeiten. Nur halte dir Zeit für deine poetische Arbeit frei: das muß deine Bedingung sein.” Selbstverständlich erzähle ich Ihnen nicht, worum es ging; so viel zu meiner Unverläßlichkeit. Aber es wird Menschen geben, die es schon entsetzlich finden, wenn ich solche Fragen überhaupt, weil öffentlich, behandle.
Wir sprachen lange auch persönlich, sprachen über Elternschaft, Kinder, Partner. „Für dich ist die menschliche Grundbewegung Sexualität, für mich nicht, ich bin da anders; ich sehe das nicht so ausschließlich wie du.” Daß ich gerne n o c h ein Kind hätte, erzählte ich, eines mit meinen Genen. Sie lachte auf und fing sofort an, Kuppelgedanken zu spinnen, mit denen wir dann etwas herumspielten. Mir gefällt sowas ja: Möglichkeiten, Potentialitäten, Potenzen. Dann las ich ihr aus >>>> Der Engel Ordnungen vor. „Und so ein Buch hat >>>> Dielmann kaputtgehen lassen? Das muß wieder aufgelegt werden!” Was das denn bedeute für mich, den Romancier, plötzlich mit solch knappen Formen zu erzählen? „Denn du erzählst ja, auch hier, das sind ebenfalls alles Geschichten.” Als ich die >>>> Kleine Tierkunde vorlas, sagte sie nur rügend: „Alban..!” -dies aber durchaus berührt von dem Text. Ich konnte nicht anders und las noch meine Vater-Elegie vor, da war es schon lange nach zwei Uhr nachts. Und wurde immer später, mehrmals ging ich zum Kühlschrank für Nachschub an Wein. Als sie die Arbeitswohnung verließ, das Taxi wartete unten, ich brachte sie hinab, war es längst nach drei Uhr. Wir waren beide ziemlich betrunken. Und noch immer betrunken, verschlief ich.
Da klingelte es. Ich wußte spontan: mein Sohn! der wollte doch noch was für die Schule holen… Im Nu war ich in zweidrei Klamotten. „Ich komme gleich!” rief ich durch die Wechselsprechanlage. Solch ein Kopfschmerz! Und schlecht war mir. Wie immer, wenn ich einen Kater habe, pocht mein Unterleib. Da kann sich nichts heben, aber es pocht um so mehr. So daß ich, als ich wieder oben war, gar nicht anders konnte, als mich wieder hinzulegen. Ich wußte, daß dieser Tag mir entgleiten wird, restlos entgleiten, nicht so sehr wegen des Katers, sondern dessentwegen, was er für mich mit sich bringt: wegen dieses pochenden Unterleibs, der dagegen protestiert, daß ich mich Schachmatt gesetzt habe. Um halb neun klingelte es abermals. Ach du Scheiße, begriff ich: ich hab ja ganz vergessen, daß I., eine der Freundinnen >>>> von Giglio, aus Österreich nach Berlin kommen wollte, um für das Wochenende meinen Jungen zu besuchen; aber ich hatte das über den Alkohol völlig vergessen. Verpeint öffnete ich, abermals nur in zweidrei Klamotten geschlüpft. Es war nicht mal aufgeräumt von der Nacht. Und ich mußte überdies morgens den Pressetext für den WDR abgeben, der war noch gar nicht fertig. Aber ich war derart langsam! Und ich wußte, das würde den ganzen Tag so bleiben, bis ich sexuell explodieren würde. Zugleich war ich doch wegen des Katers überhaupt nicht fähig. Also, während I. unter der Dusche war, dann zu einem ersten Spaziergang aufbrach, dann wiederkam und bei mir auf der Couch einschlief, – also surfte ich durch die Sites. Öffnete die Pressetext-Datei und sah dabei Pornos. Schrieb an dem Pressetext, mußte aber noch auf den Anruf der Redakteurin warten, die noch dreivier Sachen mit mir zu besprechen hatte, nachdem es ihr tatsächlich noch gelungen ist, mein Hörstück zu einem g r o ß e n Feature zu machen, – was für mich mehr als die doppelte Bezahlung bedeutet und mir drei Monate finanzielle Sicherheit geben wird; nur drei, weil ich von dem Geld auch die Augenoperation bezahlen will, die ich mir für den Februar vorgenommen habe; im Januar muß ich das erste der beiden Kinderbücher schreiben. Vorher müssen Die Fenster von Sainte Chapelle, die Kleine Theorie des Literarischen Bloggens, die Essays und vor allem auch die Steuererklärung fertigsein. Der November wird zu zwei Dritteln dem Hörstück gehören, das jetzt überdies ein Schwerpunkt im WDR-Hörprogramm sein soll. Was wiederum zu besonders heikel zu formulierenden Pressetexten führt.
Der Anruf kam, ich ließ den Porno pausieren. Sprach, alles höchst sachlich: für Leute, die mich kennen, zu sachlich. Dann ließ ich den Porno wieder an und formulierte parallel. Das ging bis in den Nachmittag so. Ich war ganz Maske. Denn I. war ja allezeit hier; die hätte nur mal um den Schreibtisch gehen müssen, um zu sehen, was ich da eigentlich trieb, unter anderem trieb. „Trieb” ist das genau richtige Wort.
Ich hatte überhaupt keine Lust auf das Arbeitsjournal, auch überhaupt keine Lust auf meine Überarbeitungen. Rechnungen stellte ich noch zwei, noch zwei Briefe schrieb ich, das war alles. Mein Junge war unterdessen auch gekommen, ich mühte mich vom Schreibtisch weg, um Spaghetti und eine Tomatensauce zu bereiten. Wir aßen, die beiden spielten Maumau mit neapolitanischen Karten, die wir >>>> aus Sizilien mitgebracht haben. Schließlich warf ich die beiden hinaus, weil ich mittagsschlafen wolle. Das aber nicht tat, denn ich hockte ja immer noch über diesem Pressetext, der zudem auf ein anderes Feature zur selben Romantik, aber eines anderen Autors, abgestimmt werden mußte. Ich hatte zehn Zeilen, da mußte alles rein. Doch Sie glauben nicht, was man alles völlig frei an Pornos bekommt, wenn man sich ein wenig auskennt im Netz.Natürlich muß man Pornos auch mögen. Trefflicherweise rief die Samarkandin dann an: sie habe als Teilnehmerin einer Podiumsdiskussion zum Theme Pornographie & Geist zugesagt; jetzt bange sie ein bißchen, sich so öffentlich zu machen, so für alle kenntlich. „Was auch immer sei, ich stehe da hinter dir,” sagte ich. Dummerweise bin ich an dem Tag anderweitig verpflichtet und kann selber nicht im Hörerraum sitzen. „Ich oute mich da”, sagte sie, „das weiß doch alles keiner von mir.” „Wird >>>> Ayana” (17.15 Uhr im Link) „dabeisein?” „Ayana ist nach Paris gefahren für ein paar Wochen.” „Wie schade!” „Du bist schrecklich in deiner Gier.”
Die immer noch zunahm. Dabei war mir immer noch übel. Aber der Kopfschmerz war endlich weg. Arbeitsjournal? Nicht dran zu denken! Schon wegen des „Arbeits” im Wort. Ich rief die Redakteurin an, um meinen Entwurf zu besprechen. Die Redakteurin nahm nicht ab. Ich schickte ihr den Entwurf. Meine Unterleib war unterdessen bis außen durch die Jeans genäßt. Eine kalte Dusche wäre fälliggewesen, aber ich genieße solche Zustände ja, ich mag es, diese Art der Dauererregung noch und noch zu prolongieren. Auch, daß dann mein Junge mit I. wiederkam, weil er Cello üben und ihr dabei vorspielen wollte. Diese Art Beherrschung gefällt mir. Er spielte, sie hörte. Dann spielten beide wieder Maumau, dann rief meines Jungen Mama an, wann er denn wiederkäme. So brachen die beiden hinüber auf. Kaum waren sie weg, rief die Redakteurin neuerlich an, hatte meinen Text gelesen, brachte noch zweidrei Vorschläge. Bis Montag/Dienstag ist jetzt Ruhe diesbezüglich.

[Hosokawa, >>>> Landcape III für Geige und Orchester (1993).]

Dann erschien die Löwin in Skype. Aus Wien wieder. Es war jetzt nach neun Uhr abends. Ich immer noch in meiner Erregung. Das brach sich dann Bahn, bis nach ein Uhr nachts ging das, da hauchte sie erschöpft übers Netz: „Bitte, ich kann nicht mehr, ich muß schlafen.”

Drängende und entgrenzende Semirealität. Darüber will ich schreiben. Ich stelle aber erst einmal dies hier ein.

10.21 Uhr:
[Hosokawa, Ans Meer (1999).]
Der Tee sitzt auf, und keine Löwin ist, ihn mir zu servieren. Jedenfalls nicht hier. Was den Vorteil hat, daß ich arbeiten kann. Es w i r d ein Arbeitstag werden, wenigstens einer des Nachdenkens und Formulierens, allerdings noch ohne >>>> DTs. Indessen: ein gutes BeiSichSelbstSein. Gestern abend hatte ich ursprünglich zu >>>> Lutz Seilers Lesung in der >>>> Literaturwerkstatt gehen wollen, aber Schwanz und Geist wollten es anders. Pornographie & Geist: ja, das ist mein Thema (eines meiner Themen), und rasend gern wäre ich bei der Diskussionsveranstaltung dabei. Doch ich bin mit meinem Jungen unterwegs, in ganz anderer Kultur, und der Bub hat Vorrang. Wie wundervoll es übrigens ist, Dich mit Deiner Freundin zu sehen, wie Du den Arm um sie legst und welche bestimmte Zärtlichkeit Du dabei ausstrahlst! Daß ich als Dein Vater das ansehen darf! Das hat jetzt mit Pornographie & Geist gar nichts zu tun, oder doch, aber völlig anders; eines Tages, vielleicht, wirst Du dies lesen und verstehen – oder sehr dagegen sein; das kann ich nicht wissen. Doch du b i s t ja nur, weil wir sexuelle Geschöpfe sind. Ohne Sexualität kein Geist, keine Kultur, weil nichts so sehr wie sie unsere inneren Ambivalenzen, unsere Traumata und die aus ihnen brechenden Begehren am Leben hält und dann eben zu Kunst führt. (Eine Kunst der Replikanten wär denkbar? Ja, gewiß. Sie bezüge sich sehr auf den Verlust von Herkunft – auf eine Leere, die daher unbedingt rührt, daß man zu keiner Retorte ernstlich „Mutter” sagen kann.)
Der Rausch der gestrigen Nacht war einer des Geistes, die Körper-selbst waren nur begleitend involviert, und abschließend, sicher. Es gab keine Stimme in Skype, nicht einmal ein Bild, das wir per Cam sonst immer gern mit hinzunehmen. Hier waren nur Worte – also die Auren dieser Worte. Das meine ich mit Semirealität. Denn es ist ja Reales dabei. Ohne unsere Hirnfunktionen nähmen wir Realität gar nicht wahr, weshalb sie nicht wenige für eine Funktion unserer Gehirne halten. Es war, so gesehen, ein ausgedehnter Hirnfick. Aber der Löwin nächtliches „Ich kann nicht mehr” war körperlich.
Dieses sexuelle Wechselspiel von Geist und Körper bestimmt nicht erst nur das Netz, aber in ihm ist es umfassend geworden. Die Löwin und ich wissen sehr genau, wann wir lieber etwas schreiben, chattend, und wann wir dann doch übers Telefon gehen, das sich aber für den Akt kaum recht eignet. Anders die Kombination aus Cam-Bild und geschriebenem Wort. Wir haben einiges hinzugewonnen durch das Netz, wir können in ihm sogar Fantasien realisieren, die im Realen mit oftmals ganz banalen, aber nicht verfügbaren Widerständen behaftet sind; zugleich ist man mit den Fantasien nicht allein. Und sie lassen sich, einige, später real umsetzen, oft einfach deshalb, weil eine Hemmschwelle sich leichter wegtippt als -spricht. Semireale Sexualität im Netz ist konzentriert: es ist nichts daneben, das stört. Unsere Schädelknochen schützen sie. Und auf eine eigensame Weise ist sie voll Vertrauen. Das liegt nicht nur daran, daß unsere Schwächen ausgeblendet sind; im Netz kann auch der Impotente spielen. Es liegt daran, daß die Hirne quasi direkt interagieren; nicht grundlos läßt in eXistence Cronenberg den Spielern Bioports implantieren: wie immer verkörpert er hier die Geschehen. Wenn nun die Fantasiekraft groß ist, wie bei der Löwin und mir, läßt sich ein vierstündiger ununterbrochener Akt nicht nur inszenieren, sondern auch erleben. Das ist ganz nahe bei der Kraft eines Romans, aus dem man nicht hinauswill, sprich: es ist gelebte Literatur. Auch hierher kommt meine Nähe zum Netz, das Faszinosum, das es für mich und andere bedeutet – und auch der Schrecken, den wieder andere Menschen zu empfinden scheinen. Das Netz entgrenzt, es löst auch moralische Vorbehalte auf, sofern zweie – und mehrere – spielen. Dabei ist das Wort „spielen” an sich ganz falsch, weil es den Ernst zu unterlaufen scheint, der doch zugleich dabeiist. Das so sehr Abenteuerliche bei alledem ist, daß man, wenn man über ein Chatprogramm geht, tatsächlich einen Partner hat, oder mehrere; das ist anders als beim pornographischen Film, der ja vorgibt, wovon man nicht wegkann oder nur dann, wenn man die Szenen für sich neu kombiniert; aber auch das ist immer ein Readymade. Nicht so beim Netzakt. „Nicht nachdenken, einfach antworten”, schrieb ich gestern nacht mehrmals. „Was wirst Du tun?” Es lassen sich so, „spielt” man geschickt, sogar heftige Widerstände untergleiten; sie fallen, versteht man die Dynamik, auf das leichteste weg. Man braucht Empathie, muß erspüren, erwittern, was die versteckten Lustwünsche des anderen sind. Und da wir ja „nur” schreiben, sind sie nicht ganz so vergraben. Denn das Alltagsreale behindert uns nicht. Von dort aus dann ist der Schritt in die Realisierung nur klein. – Selbstverständlich, ich schreib das aus der Perspektive dessen, der führt. Aber mache ich einen einzigen Fehler, bin ich nur einmal unkonzentriert, beginnt das Mißverständnis, für das das Netz ein begehrlicher Schwamm ist. Und die Magie, eine schwarze, die gut ist, zerfällt.

11.12 Uhr:
[Bach, Partita Nr. 6 BWV 830 (Gould).]
Damit mich niemand mißversteht: Es geht nicht darum, die Realität zu ersetzen. Im Gegenteil. Es geht darum, sie noch anzufüllen, ihr etwas Weiteres hinzuzugeben, sie reicher zu machen. Es geht um die möglichst große erreichbare Fülle. Manchmal denke ich, daß die Löwin und ich nicht zusammensind wie andere Paare, habe einen großen Vorteil. Nicht nur, daß sich die scharfen Begehren nicht oder doch sehr viel weniger abschleifen, für die ein Maß an Fremdheit immer nötig ist. Sondern es hat etwas von den getrennten Schlafzimmern, die kluge Gatten wählen. Man darf sich nicht täuschen, wie sehr Unachtsamkeit, die man mit sich allein ausmacht, tut man das nicht mehr, eine Beziehung normalisiert. Die Entfernung sowohl von Berlin nach Wien wie von Wien und Berlin zur >>>> Serengeti hat etwas Präventives, so sehr wir andererseits auch unter ihr leiden, unter der immer wieder neuen Trennung leiden. Normale Beziehungen hielten das nicht aus. Das Netz baut aber Brücken, weil es Entfernung nicht kennt, ja das Netz schafft einen Reiz an der Entfernung, die man zudem durch Telefon, ViP, Cams, Briefe näherfalten und so modulieren kann.

[Kleine Theorie des Literarischen Bloggens 130
>>>> Litblog-Theorie 131
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Es kommt dies zum realen Beisammensein noch hinzu.
Die Gefahr freilich besteht in der Chronifizierung dauernde Entkörperung. Das entspricht der Klage, ein Roman im Netz oder als Ebook habe keinen Körper; den Menschen fehle das Sinnliche, Haptische. Das ist, bezogen auf Netzsexualität, nur dann, und allenfalls, wahr, wenn sie sich ausschließlich macht, also Ersatz wird. Dem, in der Tat, ist zu begegnen, wenn uns an der Weiterexistenz der Art gelegen ist. Es ist ihm um so mehr zu begegnen, als daß uns das AIDS an die Kette gelegt hat und eine Fluchtrichtung aus dieser Gefangenschaft sich im Netz zu zeigen scheint.

Aber Leserin, ich muß wirklich jetzt auch anderswo arbeiten, sonst brechen meine Vorhaben zusammen. Freilich könnte ich nun aus der Hand einen ganzen Aufsatz hierzu schreiben! Doch ist die Dschungel selbst dieser Aufsatz. Ego sum quis sum.

13.08 Uhr:
Auf >>>> manches Zeug m u ß man nicht eingehen. Es entblößt sich selbst.
Ich mach mir was zu essen, dann schlaf ich eine Stunde. Hab die Arbeit an den Fenstern von Sainte Chapelle wieder aufgenommen.

5 thoughts on “Das lange Arbeitsjournal des Sonnabends, dem 29. Oktober 2010: gleich mit Eckhard Käßmann, wenn auch heftig unter Testosteron. Nachträge nämlich, die über Kater & Sex meditieren und über Imaginationen im Netz. ODER. Semirealität und Schwarze Magie: Kleine Theorie des Literarischen Bloggens (130).

  1. Das ist ja wirklich komisch Wie Sie an 10 Zeilen Pressetext herumwürgen, diese Agonie, und es kommt Ihnen nicht und kommt Ihnen einfach nicht. Und dann diese Ergüsse hier, die so herausfließen, das Tagebuch des Priaps wird logischerweise nie still und leise. Es scheint so, als könnten Sie nur ernst sein, wo Sie sich ein paar Spiegel aufstellen können. Oder anders gefragt: Haben Sie denn wirklich gar kein Thema?

  2. Aids hat uns in Ketten gelegt? Nein. Es hat uns befreit. Von den ständigen Vergleichen, von der Leistungsgesellschaft im Sex. Wir werden bedächtiger, klüger, ruhiger. Wir überlegen erst einmal, bevor wir mit jemandem schlafen. Aids ist ein Gewinn für die Vernunft. Wir können sogar dankbar sein.
    Aber Vernunft ist Ihnen offenbar nicht zugänglich. Und dass Sie es wagen, so ein Bild einzustellen, müsste Ihre Website sofort auf den Index bringen. Das ist eine inhumane Unverschämtheit. Es wird Zeit, dass man Leute wie Sie unter Beobachtung stellt.

    1. SO ein Bild ! Mein guter Freund Pierre Petiot schrieb für eine Ausstellung einen Text zu meinen Bildern…eine adäquate Antwort auf Ihren Kommentar bzgl des von ANH eingestellten Bildes wie ich meine :

      Hier ein Auszug :

      Farbflecken als Mathematik

      Eines Tages zeigte ich einer unschuldigen koreanischen Studentin einige Arbeiten eines befreundeten Surrealisten aus Florida.
      “Oh !” sagte sie, “dein Freund hat ziemlich seltsame Ideen”.
      “Ach so?”, antwortete ich, “Ich persönlich glaube eher, dass du seltsame Ideen hast”.
      “Warum sagst du das?” sagte sie errötend.
      “Weil ich diese Bilder gestern via Internet bekommen habe, und folglich ist, was du vor Augen hast, nichts anderes, als eine ziemlich lange Reihe binärer Zahlen.
      Und ich stimme mit dir überein, dass das vielleicht ziemlich langweilig ist, aber sicher nicht seltsam. Du siehst also, wenn es etwas seltsames in den Bildern meines Freundes gibt, muss es von deinem eigenen Geist kommen, und nicht von diesen Farbflecken vor unseren Augen, die nichts anderes sind, als eine Übersetzung eines mathematischen Kunstgriffes.”

      Offensichtlich hinterliessen meine Argumente – die ganz genau den Grund der Dinge beschreiben – ein bisschen Verwirrung, und machten das Rot auf ihren Wangen noch reizender.

      Ja. Was Sie da sehen, ist in Ihnen. Oder es ist absolut nichts anderes, als die visuelle Übersetzung einer ziemlich grossen Anzahl binärer Zahlen.

      […]

      Anmerkungen :

      … eine ziemlich lange Reihe binärer Zahlen…

      Genauso wie der Mond nicht das Gesicht eines Mannes ist, wie der Schatten eines Zweiges auf der Mauer von Dali´s Haus in Figueras kein Portrait von Voltaire ist und wie keine Drachen in den verzerrten Formen der Wolken sind….
      Die Tatsache, dass wir die Schatten auf dem Mond oder eines Zweiges oder die Wolkenformen als Formen interpretieren, heisst noch lange nicht, dass diese Formen in der Realität auch existieren. Sie wurden durch unsere aktive Wahrnehmung geschaffen, sicherlich aus einem existierenden Phänomen heraus, ein Phänomen aber, das die aktive Wahrnehmung einer Schnecke oder einer Biene ganz anders, oder vielleicht auch überhaupt nicht interpretieren würde.
      Genauer gesagt, wahrnehmen ist eine Entscheidung.
      Und es ist diese Entscheidung, die uns die Ready-Mades von Duchamp in ihrem Ursprung enthüllen. Das jedoch war uns in gewisser Weise schon klar, weil das langsame Entstehen des Alphabets, das heisst der Übergang von willkürlichen Zeichen der Piktogramme zur Schrift uns ganz klar gezeigt hat, dass jedes Bild alles repräsentieren kann, vorausgesetzt, dass wir entschieden haben, dass dies so sei.

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