„Sei gütig, Schwester, wir verschuldens nicht;
sie fehlt uns schon seit gestern!“

Weil sie es nicht besser wussten, diagnostizierten die Ärzte des städtischen Hospitals schließlich eine Hirnhautentzündung. Irgendwann fand sie sich in einem Bett wieder, welches an einer weißgetünchten Wand stand. Hinter der Wand war es Nacht. Vom dem Ereignis blieben ihr nur einzelne Wörter, welche sie in die Finsternis rief. Dann ruhte sie aus von ihrer Reise.
Die Erregung ihrer Sinne schrieben die Ärzte dem hohen Fieber zu und verordneten Bettruhe sowie regelmäßige Spaziergänge im angrenzenden Park des Spitals mit anderen Grenzgängern. Allerdings bemerkte niemand das immer öfter stattfindende Reisen des Kindes in eine andere Wirklichkeit, und selbst dem aufmerksamen Beobachter seines Zustandes entzog sich die Tatsache, dass die meiste Zeit des Tages für sie nicht zählte. Sie selbst sah sich außerstande, eine Erklärung dafür zu finden, es verstellte ihre Welt so ganz und gar, auch widersprach es allen ihren bisherigen Erfahrungen. Es blieb ihr ein Rätsel, und nachdem sie durch sich selbst nichts darüber wissen konnte und ohnehin ahnte, dass die Bekanntgabe ihres Geheimnisses einer baldigen Entlassung mit großer Wahrscheinlichkeit nicht förderlich war, beließ sie es schließlich dabei und gab sich einer Sprachlosigkeit anheim, welche sie nie mehr ganz verlassen würde und erst Jahrzehnte später
vom Schreiben abgelöst werden sollte.

Heute fällt es mir schwer, ihrer Erzählung zu folgen. Heute trage ich kaum dazu bei,
dass sie sich weniger traurig fühlt.
Aber an einem anderen Tag, morgen, da treffe ich einen Unbekannten. Vielleicht auf einem Bahnhof, in einem Hotel, in einer anderen Stadt. Angesichts der Unmöglichkeit, ihn mir vorzustellen, sage ich mir: er ist ein Fremder. Das lässt mich weniger hilflos fühlen, weniger ins Nichtwissen hinein sehnen. Da ich nichts von ihm weiß, kann ich auch nichts für ihn sein. Ich wäre gerne schön für ihn, aber ich ziehe die Möglichkeit in Betracht, dass ich morgen dazu außerstande sein werde. Vielleicht kann er ja sehen, dahinter. Daran könnte ich mich festhalten, wenn ich wollte.

nicht sieht
wer blauäugig
sucht zu bewundern
das bild

dahinter

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