Die Herberge

Es war warm, ein wolkenloser Himmel. Zeit und Sonnenstand nachvollziehbar durch den Dauerhupton einer sich hinziehenden Hertzfrequenz. Zuerst ein alarmierendes Aufheulen, das sich aber nach einigen Sekunden in einen asystolen Mantel verwandelte, der sich über die ganze Stadt als Mittagssirene ausbreitete. Eine kleine Stadt muss es gewesen sein, jedenfalls fühlte es sich klein an, als ich auf dieser Straße stand. Links von mir eine Mauer, die sich, so weit ich sehen konnte, bis zum Horizont hinzog. Dahinter ein weites Feld mit runden Fabrikschornsteinen, emporragende Säulen, die ihre Rauchladungen wie Geysire in einem eruptiven aber regelmäßigen Takt ausstießen. Unregelmäßig war nur die Abfolge untereinander. Kein Mensch war zu sehen, auch nicht zu meiner rechten Seite, nur eine Aneinanderreihung von schlichten Fachwerkhäusern, die für das Auge ebenso endlos verlief wie die Mauer zu meiner Linken. Ich wußte nicht, weshalb ich hier war. Imgrunde gab es keinen Grund, ich wußte nur in welches Haus ich einkehren sollte. Es war eine Art Herberge, keine bestimmte, ein Haus das sich von den anderen äußerlich nicht sonderlich unterschied, wahrscheinlich genauso wenig im Innern aber das konnte ich nicht sagen. Ich hatte auch nichts dabei, obwohl ich davon ausging ich würde hier einige Zeit verweilen. Als ich eintrat, fiel mein Blick auf die Rezeption, ein hochgezogener Tresen aus Holz, niemand dahinter, nur ein großes Holzbrett an der Wand, an der, gleichmäßig aufgereiht, um einiges mehr Schlüssel hingen, als dieses Haus Zimmer beherbergen dürfte. Nur Schlüssel, keine Nummern. Aus den Lücken aber war zu schließen, dass bereits einige fehlten. Ich nahm einen von ihnen und stieg die Treppe herauf, die sich neben der Rezeption befand. Der erste Stock eröffnete mir einen schmalen, verwinkelten Flur mit vielen Zimmertüren, links und rechts von mir, ebenfalls ohne Nummern, und immer noch eine Abzweigung. Verschachtelungen, die aus der beschrittenen Perspektive nicht nachvollziehbar waren, allenfalls in einem Grundriss. Ich lief den Weg zurück zur Treppe, um in das nächste Stockwerk zu kommen. Das gleiche. Weshalb ich mich dort auch nicht lange aufhielt und meinen Weg ins Obergeschoss fortsetzte. Das Obergeschoss war noch gedrungener, es gab auch weniger Zimmer, der Flur aber wies nur in eine Richtung, keine Abzweigungen, kein um-die-Ecke-Biegen, nur ein Flur, an dessen Ende sich eine Tür befand. Ich schloss auf, und als ich eintrat, war es geräumiger, als ich es mir vorgestellt hatte, nicht sonderlich groß aber groß genug für ein einfaches Bett, mittig an der Wand zu meiner rechten Seite. Rechts daneben ein Waschbecken mit einem Spiegel darüber. Auf der linken Seite des Zimmers ein Schrank sowie ein kleines quadratisches Flügelfenster vor mir, das, wie mir auffiel, den Blick in Richtung des Fabrikgeländes freigab. Daneben ein kleiner Tisch mit einer Lampe. An den Wänden hingen viele kleine gerahmte Blätter und Blüten, ein ausgestelltes Herbarium, Pflanzen, deren Namen ich nicht kannte, und einige, die ich noch nie gesehen hatte. Ich verriegelte die Tür von innen und öffnete das Fenster. Vor mir ragte kerzengerade ein kranähnliches gelbes Gebilde in die Höhe, erstaunlicher Weise viel höher als die Schornsteinschäfte, die ich zuvor noch unten auf der Straße erblicken konnte. An dessen Ende war ein überdimensionales durchsichtiges Becken in Form einer Badewanne angebracht, das, durch ein bewegliches Scharnier, gleichmäßig wie ein Metronom zu beiden Seiten schwang. Darin eine zähe rote Flüssigkeit von öliger Konsistenz, von der sich immer wieder, durch die Bewegungen, riesige Tropfen lösten, die in Zeitlupe auf die Fabriken niederfielen. Ich sah eine Weile zu, es hatte etwas pulsierend Beruhigendes, schläfrig Machendes… solange, bis ich auf dem Flur Stimmen hörte. Ich ging zur Tür, drehte den Schlüssel herum. Mehre Türen waren nun geöffnet. Ich lief den Flur entlang und spähte kurz im Vorbeigehen in die Zimmer. In jedem saßen zwei oder drei Frauen, die sich miteinander unterhielten. Junge Frauen. In etwa mein Alter. Sie trugen alle denselben Haarschnitt: Bob mit geradem Pony, dieselbe Kleidung: weißes Trägershirt, weiße Leinenhosen. Wieder im Zimmer, schaute ich in den Spiegel, sah denselben Haarschnitt, dieselben Kleider an mir, lief erneut zum Fenster und bemerkte, dass die Bewegung des Beckens aus dem Takt geraten war. Eine innere Unruhe stieg in mir auf. Es war abzusehen das die Flüssigkeit unkontrolliert über die Fabriklandschaft hinwegschappen würde. Ein großer roter Strom, der das Becken aus der Verankerung zu reißen drohte. Mir wurde schwindelig. Der Dachstuhl bewegte sich mit …

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .