Robert Browning: Sordello. 20.05. 2008. montgelas. Arbeitsnotizen.

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„Manche Menschen sehen die Dinge, wie sie sind,
und Fragen: “Warum?” Ich wage, von Dingen zu träumen,
die es niemals gab, und frage: “Warum nicht?”“ (Robert Browning)

In England, fast in der Mitte des 19. Jahrhunderts, genau im Jahre 1840, erschien >>>Robert Brownings Großgedicht >>>„ Sordello“ Ich weiß nicht, ob Browning mit dem Schöpfer des Geschichte machenden Revolvers verwandt war, dass aber sein „Sordello“ beim applausbereiten Publikum wie ein Schuss einschlug, der die Leser verwundert aus ihren schläfrigen, bourgeoisen Augen aufblicken ließ, ist Tatsache. Die meisten konnten mit dem Text nichts anfangen und fürchteten beim Lesen den Verstand verloren zu haben. Eine, wie ich im Vergleich zu heute finde, tugendhafte Reaktion.Werfen heutige Kunstfans, Leser u. Literaturwissenschaftler angesichts von Werken, die sie nicht verstehen, doch eher Künstlern und Autoren mangelnden Verstand vor. Brownings „Sordello“, um darauf zurückzukommen, stieß in den britischen Salons auf Ablehnung. Der aufleuchtende Stern Robert Browning schien schon erloschen, bevor er seine Strahlkraft am Firmament englischer Poesie dauerhaft implantiert hatte. Was war geschehen? Es war nicht der Stoff, der Englands Bildungsschichten irritierte. Historische Stoffe sind ihnen seit Sir Walter Scott fast tägliches Brot. Italien, Brownings „Sordello spielt im 12. Jahrhundert, erzählt die Geschichte des Troubadours Sordello, der zwischen die Machtkämpfe von Guelfen und Ghibellinen in Oberitalien gerät. Sie lasen von lombardischer Landschaft, einsamen Burgen und Schlössern, Kleinst – und Großrepubliken, ich denke hier an Amalfi und Florenz, und ihr Gewimmel in Gassen, Häfen, Werkstätten und Spelunken. Das Personal reicht von Friedrich II, italienischen Fürsten, ihren schönen Frauen und Töchtern über Condottieri, Podestàs, Gesandte aller Art, Troubadours und Artisti bis zum gemeinen Volk und einer bunt zusammen gewürfelten Soldateska. Im Handlungsteppich des browningschen Werkes konnte, dass seinen Augen und Sinnen nicht trauende Publikum, Bilder und Ereignisse sehen, die Sinnenlust und Tod miteinander verknüpfen. Blowjob im Beichtstuhl und rascher Fick in der Sakristei, Browning hält die Türen geschlossen, können heutige Leser nur ahnen. Von Sängerwettstreiten, Entführungen, dynastischen Zweckheiraten und vertauschten Kindern ist dagegen umso mehr die Rede. Im Hintergrund droht bereits Savonarola und sein ihm anhängender Pöbel, der über 200 Jahre später Florenz in ein praeprotestantisches Irrenhaus verwandeln wird. Aber nicht Florenz steht im Mittelpunkt „our Sordello“, der sich als historische Person durch das Labyrinth italienischer Verhältnisse bewegt. Zwei Ereignisse, die Vertreibung der Ghibellinen aus Vicenza (1194) und die Erstürmung Ferraras (1294) verwebt der Dichter zu einem Gobelin, die er mit einer Menge von Fiktionen anreichert. Sordello, der träumende Sänger der Liebe, wandelt sich im Verlauf des Poems zum Träger humanitären Gedankengutes, das Robert Brownings Kenntnisse über Dante verrät. Auf rund 6000 Zeilen, in sechs Gesängen, werden wahre und erfundene Geschehnisse kollationiert, die Kausalitäten von Zeit und Raum über Bord geworfen, und die bisher übliche poetische Logik eines Nacheinander und Miteinander von Handlungen löst der Dichter auf. Damit hatte er seine viktorianische Leserschaft überfordert; erntete Spott und hämisches Kopfschütteln. Die Herstellung eines Gleichzeitkontinuums (perceptions whole), ein nahtloses verweben objektiver Realität und persönlichem Erlebnis, die Totalität der Welt, ist Brownings Programm. Dafür suchte der Poet Kunstgriffe und fand sie auch.

Davon wird noch geredet werden.

>>> Bildquelle: Dali, Sordello, pencil tempera