[Erstellt am: Donnerstag,
27. November 2003, 12: 24]
Projektion 1
Eine junge Frau schreibt in einem höchst zweideutigen Chat einen über fünfundzwanzig Jahre älteren Mann an, den sie damit sogleich aus dem Chat herauszieht, erst einmal in die briefliche Korrespondenz, auf die er mit enormem Fantasietanz reagiert. Die beiden telefonieren und schreiben sich fortan nahezu täglich SMS’e. Reagiert einer(r) von beiden nicht sofort, wird die/der andere unruhig. Dabei wollten es beide so weit gar nicht kommen lassen. Doch nun bleibt ihnen nichts anderes übrig: Sie verwachsen ineinander, ihre Projektionen, ihre Fantasien. Sie sehen sich real aber immer noch nicht, ein halbes, ein ganzes Jahr lang. Dann kommt es zum ersten Streit: Wo das Aufgebot bestellen? In Hamburg (da lebt sie) oder in Karlsruhe (da lebt er). Die Eltern und Freunde der „Parteien“ werden um Rat gefragt, aber die halten die Sache rundweg für furchtbar:
1) Altersunterschied („Mädchen, überleg Dir, was Du da tust! Das ist doch ein alter Mann!“)
2) der imaginäre Charakter („Du spinnst total! Wie kann man eine heiraten, die man nie sah? Mach, was du willst, aber sicher nicht mit unserer Hilfe.“)
Dennoch, es sind die zwei entschieden, auch wenn es beidseitig sowas wie Enterbungen hagelt und sich im Freundeskreis auch kein Trauzeuge für solch eine Verrücktheit finden mag. Um wegen des noch immer strittigen Trauortes einen Kompromiß zu finden, reisen sie und er – unabhängig voneinander – nach Frankfurt am Main, suchen sich dort jeder eine Wohnung und lassen sich dort – weiterhin unabhängig voneinander – polizeilich melden. Dann bestellen sie in Frankfurt das Aufgebot. Beide – zu verschiedenen Zeiten, damit sie einander nicht zufällig begegnen – spazieren durch die Stadt und sprechen Passanten an: „Entschuldigen Sie bitte, ich brauche Trauzeugen…“ Deretwegen ist zwischen den – man muß sie längst so nennen: – Liebenden eine einzige Bedingung gestellt: Es dürfen nur schöne Menschen sein, Männlein wie Weiblein. (Ich meine schön, nicht „hübsch“: Schönheit setzt Geist voraus.)
Und wie die Braut den Bräutigam – sowie umgekehrt, logischerweise – nicht vor der Hochzeit sehen darf, so die Braut auch nicht die Trauzeugin und der Bräutigam den Trauzeugen nicht: Sie nämlich hat den männlichen Zeugen, er die Zeugin auszuwählen. Das gelingt.
Im Juni 2004 finden die Liebenden dann „wirklich“ zueinander. Sprachlos standen sie vorm Standesamt… absolut sprachlos, als sie sich in die Augen sahen. Sehr langsam, fast ein wenig wankend, schritten sie – jeder gefolgt von Zeugin und von Zeuge – aufeinander zu. Nein, sie begrüßten sich nicht, sprachen kein einziges Wort. Beugten sich einander bloß zu, sich ihre Münder zu … und um den Kitsch, aber um mindestens ebenso dringend zu vermeiden, daß sie einander wieder verlieren, also der/die andere sich mit einem traurigen Plop in die Imaginationen unversehens auflöst, die sie bis zu diesem Tage füreinander gewesen, küßten sie sich mit offenen Augen; überhaupt schlossen sie sie nicht mehr — fast wollt‘ ich schreiben: nie. Bis zum späten Abend, als sie dann doch zufallen wollten, machte ihnen jedes Zwinkern Angst. Und so weiter.
Kurz vor Mitternacht setzen sie sich ins Flugzeug. Wohin sie reisen, wissen wir nicht. Auch nicht, ob sie zurückkehren werden. Die Schlüssel ihrer Frankfurter Wohnungen haben sie, und zwar überkreuz, bei den ihnen im übrigen gänzlich unbekannt gebliebenen Trauzeugen gelassen.
Nota 1:
Man kann dies auch o h n e Happyend erzählen, doch wozu? Es wäre nach den trockenen Lippen des Realismus geredet und obendrein zu wahrscheinlich; Novellen sind indes „unerhörte Begebenheiten“. Nein! D i e s e s Happyend stünde ich durch.
Nota 2:
Man sage nicht, dergleichen finde nicht statt. Man sage nicht, das Internet schaffe nicht neue Realitäten, die die alten zumindest modifizieren.
Projektion 2
Mich erreicht die SMS einer mir unbekannten Frau, die meinen Fernsehauftritt gesehen hat: „Lieber Herr Herbst, Sie sind einfach geil. Weiter so!“
Sie wolle sofort in den nächsten Buchladen stürmen, um sich → Meere zu besorgen. Und wolle mich – obwohl ich ihr zurücktippte, ich glühte für eine andere Frau, nach meiner Rückkehr treffen. Ganz lakonisch schreibt sie: „Ich bekomme, was ich will. Sie kennen mich nicht.“
Das ist nun genau der Ton, auf den ich unweigerlich anspringe: der projektive. Derjenige, der Romane schreibt, die Quellen des Nils suchen läßt, Leute zum Mond bringt oder zum Mittelpunkt der Erde, – Sinfonien schafft er, prägt Stadtteile, setzt Pyramiden wie Naturkonstanten in die Wüsten oder baut Opernhäuser in den Dschungeln; ein Ton, der sich um die vermeintliche Realität nicht schert. Mit ihm beginnen nahezu alle französischen Liebesfilme, die ja die besten sind, weil sie von vornherein nicht ohne Geist auskommen wollen. Um etwas draus entstehen zu lassen – ganz gewiß nun Literatur –, spielt es nicht einmal eine Rolle, ob ich auf den Arm genommen worden bin: sondern es geht um den Reflex in mir. Ob ich sofort „Blödsinn“ rufe oder zulasse, es könne etwas daran sein. Selbstverständlich macht auch mich die Mischung aus „geil“ und „Sie“ stutzig; doch es ist ein reizvoller Widerspruch, weil er Jugendslang mit Distanzierungswille mixt.
Und ist es hier denn anders, in Catania* jetzt, wenn ich durch die Straßen gehe und beobachte, wenn ich in die kleinen, verschachtelten Werkstätten schaue? Was sehe ich? Jeder mir zugeworfene Blick wird zu einer Geschichte, einer mir selbst erzählten Imagination von Geschehen, die in mir immer zu Kunststücken führen und manchmal zu Wendungen in meinem „realen“ Leben. Nein, das ist nicht privat, sondern ich schreibe es auf, weil sich so Realität konstituiert, a u c h so konstituiert. Auch Gedanken sind physiologische, mithin „reale“ Vorgänge, auch sie unterliegen chemophysischen Konditionen. Das gilt genauso für ihre Übertragung: sei es auf akustischem oder optischem Weg (der Begriff als Klang und als Zeichen).
Nota 3:
Ist das Fernsehen nicht ebenso irreal wie das Internet? Was sehen wir, wenn wir schauen? Nicht immer auch uns selbst, also den Tanz unserer Selbst- und Fremdideale? Und SMS’e wären nicht gleichfalls I d e e n?
[Poetologie}
*) NACHTRAG, 7. März 2020
Auf der Recherchereise → für das 2004 ausgestrahlte Poetische Hörstück.
Es gibt Wesen, die in vielen Welten ihre Schatten werfen.