Alban Nikolai Herbst
Joachim Zilts’ Verirrungen
Eine Erzählung.
ERSTER TEIL
Meine Wanderungen begannen im April. Niemand wird sie mir glauben, man wird allenfalls denken, ich hätte sie halluziniert. Mir wird ja ebenfalls nicht geglaubt, daß ich diesen Raum verlassen kann, wann immer ich will. Ich will aber nicht. Denn ich bin hier geborgen.
Es war also ein warmer Sonntagmorgen.
Christine hatte sich schon ins Bad begeben, derweil ich noch etwas döste und nun dem Prasseln der Wasserspitzen am Duschvorhang lauschte. Durch das offene Schlafzimmerfenster wurde ein Kinderlachen geworfen. Sonnenlicht stand etwas streifig auf der Scheibe. Ich verschränkte die Hände unterm Kopf und sah zur Decke. Wir müßten dringend renovieren, dachte ich, das Weiß hatte sich scheckig eingegilbt, wohl noch aus der Zeit, da wir rauchten. Langsam glitten meine Blicke unter der Zimmerdecke dahin, wie ein Käfer krallten sie sich an Unebenheiten fest und näherten sich dabei einer Art Krater. Imgrunde war es nicht mehr als ein Loch, von irgendeinem Bohrer für den Dübel da hineingedreht… aber seltsam! Wieso da? Kein Mensch brächte die Deckenlampe so seitlich an, so dilletantisch deplaziert. Dennoch, das Ding fesselte meine Aufmerksamkeit. Ich kletterte noch etwas näher heran und hatte das Gefühl, irgend etwas gehe davon aus, eine Art akustischer Schleier. Denn die Geräusche vom Hof, aus dem Bad, ja sogar mein eigenes Atmen bekamen etwas von gedämpfter Ferne. Und als ich einmal hinuntersah, fand ich das gesamte Zimmer wie von einem weißlichen Film überzogen, der etwas Nebelhaftes gehabt hätte, wäre er nicht so pergamenten trocken gewesen: derart stumpf, daß man angesogen wurde davon, festgesaugt und dehydriert. Deshalb vermied ich jeden weiteren Blick hinab, kroch weiter, hatte schon einen Arm in den Krater gesteckt, um nach etwas zu tasten, woran ich mich festhalten konnte. Es gab in etwa einem halben Meter Tiefe tatsächlich einen griffartigen Vorsprung. Es schien eine Pflanzenranke zu sein. Momentlang hing ich unter der Decke in der Luft, gab mir einen Ruck, faßte mit der zweiten Hand nach und brachte mich mit einem Klimmzug in die Lage, den rechten Fuß in die Kraterwand zu stemmen. Indem ich das Knie streckte, schaffte ich es mit dem ganzen Körper in den Krater hinein, stand sicher mit gespreizten Beinen darin, holte einen Moment lang Atem. Dann reckte ich mich etwas höher, um zu sehen, wohin diese Öffnung eigentlich führte. Natürlich tat ich das mit konzentrierter Vorsicht, denn die Gefahr, abzuruschen und im Zimmer unglücklich aufzukrachen, war ziemlich groß. Doch ich hatte Glück. Der Krater war an seinem Ende zwar eng, aber doch breit genug, daß sich ein Mann auf die Zwischendecke hindurchziehen konnte. So lag ich endlich sicher da oben. „Ist jemand hier?“ rief ich in die leere Weite hinein. Rechts von mir gab es einen Horst aus jenen kieferartigen niedrigen Gewächsen, deren Wurzeln mir beim Herkommen Halt gegeben hatten. Sie hatten holzige, eingedrehte Blätter, die sich ganz ähnlich den Wurzeln zu Spiralen aufdrehen wollten. Am Weg, der in das Gehölz hineinführte, waren gesägte Stämme aufgeschichtet. Also war ich nicht allein. Doch keine Seele da. Auch ließen sich keine weiteren Spuren von Kultur mehr bemerken. Es gab keine Türen, keine Häuser, keine Fenster. Wie ließ es sich hier überleben? In der Tat, ich bekam Hunger. Deshalb noch einmal: „Ist jemand hier?!“
Wie eine verschneite, erstarrte Landschaft breitete sich nahezu fünfzig Meter unter mir das Gebirge meines alten Bettes aus, und Schränke Stühle Kommode hatten etwas bedrohlich Monströses. Ich hatte weder eine Ahnung, wie ich zurück nach unten gelangen konnte, noch hätte ich das im Moment überhaupt gewollt. Und auf den Hunger folgte so etwas wie Panik. Die ich unbedingt niederdrücken mußte. Weshalb ich mich nicht bewegte, sondern die Augen schloß und in mich hineinfühlte. Keine Ahnung, wie lange ich da so gelegen habe. Es war Christines Stimme, die zwar von sehr weit her an mein Ohr drang, mich aber dennoch aus meiner, so muß ich das nennen, Duldungshaltung weckte.
„Joachim“, hörte ich, „Joachim, nun steh doch auf!“
Aber Christine kam nicht ins Zimmer, nichts darin bewegte sich, alles lag wie ein totes Modell. Environment, dachte ich. Wahrscheinlich hatte ich mir ihren Ruf nur eingebildet, ja mir unbewußt gewünscht, meine Frau rufe mich zu sich zurück.
Jedenfalls konnte ich nicht einfach so liegenbleiben, es mußte etwas geschehen. Da sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, war es leicht, mich über das Gehölz hinaus weiter umzuschauen. Eigentlich war der Raum eine Art kleiner Saal, der sich, überall leicht abschüssig, in diesen und noch zwei weitere Krater wie in Abflüsse senkte. Zugleich erinnerte er an eine Zelle, von der einige Schächte abgingen, bzw. mündeten sie in ihr. In welchen ich auch hineinschaute, jeder verlor sich an eine schummrige Weiße, die dem trocken-Nebelhaften nicht ganz unähnlich war, mit dem sich mein Schlafzimmer angefüllt hatte. Bei einem letzten Blick hinab sah ich es wie in Lichtschnee versunken.
Ich zögerte, als ich mich aufgerichtet hatte, dennoch. Vielleicht sollte ich meinerseits nach Christine rufen? Sie hätte die Leiter aus der Kammer holen und mich vielleicht wieder hinabsteigen lassen… aber dann fand ich das alles dermaßen irrsinnig, daß ich auflachte und einfach in den nächstbesten Gang schritt.
Er wandt sich sehr lange dahin und stieg nach etwa 10 Minuten steil an. In ihm – ja: schwamm dieses Dämmerlicht, ohne daß ich hätte sagen können, woher es stammte. Lampen gab es nirgendwo, das Licht war grundlegend indirekt. Doch schien ich diese Beleuchtung mir zu lassen, denn die Dämmerung wurde, ich muß das so ausdrücken, immer dunkler. Schließlich konnte ich kaum noch etwas erkennen, setzte mich sogar für ein paar Augenblicke, lauschte. Nein, man hörte überhaupt nichts anderes mehr als das eigene Blut in den Ohren. Mir wurde etwas kühl, eine Brise, die nach Keller roch, ließ mich frösteln. Immerhin trug ich nichts als meinen Schlafanzug. Außerdem wurde es deutlich feucht, ich merkte das im Sitzen ziemlich schnell, kam deshalb schleunigst wieder hoch. Erkälten wollt ich mich nun wirklich nicht. Sowieso, der Gang mußte irgendwo hinführen. So enorm ausgedehnt konnte eine Zimmerdecke nicht sein, es war ohnedies alles verdächtig überdimensioniert.
Dann kam mir eine andere Beleuchtung entgegen. Als wäre sie geschritten. Sie pulsierte wie ein Gas, in das man eintreten muß. Ich penetrierte eine Haut, stolperte schon, nein, rutschte aus, fluchte, wäre fast hingefallen. Fand Halt, stand vor einem kleinen Absturz hinein in das nächste dieser Verteiler-Sälchen. Denn auch aus dem führten Gänge heraus, es gab abermals ein paar Krater im Boden, und zwar einige mehr als in dem Raum, durch den ich vor knapp einer Stunde erstmals in dieses bizarre Decken- und Gangsystem hineingeraten war. Hier fanden sich sogar in der Decke Krater, in die man sehr weit hineinsehen konnte und die ebenfalls in einem weißen Nichts zu enden schienen.
Ich kletterte in den Saal, mein Gang mündete etwa einen Meter über dem Boden und wirkte wie ein Kanalisationsschacht, nur sauberer, nahezu steril… von der Feuchtigkeit abgesehen, die hier nun auch im Raum stand. Und eigenartig! Denke ich zurück, dann kann ich mich überhaupt nicht erinnern, jemals noch solcher Nässe in den Systemen begegnet zu http://sein.Im Gegenteil war es meist so trocken, daß einem die Luftröhre kratzte. Dauernd mußt du dich räuspern, die Flimmerhärchen in der Luftröhre werden geschädigt, eine Art chronisches Asthma greift um sich, du schnappst anfallsweise nach Luft… zugleich atmest du nicht etwa flach, nein, mit gleichsam vollen Lungen pumpst du sie nur immer weiter auf. Es ist, um es kurz zu machen, wirklich kein Klima für Menschen. Vielleicht liegt es daran, daß sie in den Gängen ihre Gefühle verlieren und so mitleidslos, so gemüthlos werden. Ich mußte, das war mir klar, schnell wieder hinaus. Da ich aber nicht hinabspringen wollte – es ließ sich durch keinen der Bodenkrater etwas erkennen, ich sah wie auf lockeres, doch undurchsichtiges Gewölk hinab -, schritt ich kurzentschlossen in einen wiedernächsten Gang, nämlich den ersten gleich rechts von mir. Und hatte Glück: Er führte hinab.
(wird fortgesetzt)
[eingestellt: 2.7.04, nachmittags; modifiziert (1): 2.7.04, 23.45 Uhr]