Joachim Zilts‘ Verirrungen, 3. Fortsetzung.

(Ich mußte einen Augenblick pausieren, da ich glaubte, draußen den Wärter zu hören. Es wäre furchtbar, nähme man mir mein Diktiergerätchen fort, das möchte ich wirklich nicht riskieren. Ich habe ohnehin das Gefühl, es bleibt mir nicht viel Zeit. Und niemanden gibt es, mich mit neuen Batterien zu versorgen. Dabei hab ich nur noch vier.)
Diesmal kam ich nicht gleich in den Trichter hinein, sondern hing einige Zeit über dem Kratermund. Es gab keine Wurzelschlaufen, an denen sich hätte Halt finden lassen. Immerhin bekam ich an der oberen Tapetenleiste Halt, so daß ich nicht zurückstürzte, sondern mich mit einem Fuß halbwegs bequem sichern konnte. Dennoch blickte ich lieber nicht hinab. Sowieso verhielt ich mich still. Denn noch zwar plapperte Christine im Flur, aber vielleicht käme sie mit dem Portable ins Schlafzimmer und entdeckte mich dann… Also warten. Dummerweise fing ich – fing es in mir – zu grübeln an, was in meiner Lage wirklich nicht opportun war. Aber ich entsinne mich genau, wie unvermittelt mir der Gedanke durch den Kopf schoß, daß meine Rückkehr in das Gangsystem eigentlich völlig sinnlos war: existierte nämlich schon eine der meinen analoge Welt, so konnte es ohne weiteres Hunderte, wenn nicht Tausende geben, eine jede völlig verschieden und doch gleich… mal mochte Links-, mal Rechtsverkehr herrschen, mal Christine blond, mal dunkelhaarig sein. All die Verzweigungen, die schon bislang aus den Verteilersälen abgegangen waren! Wie also je wieder den Weg zurück in meine Heimatwelt finden? Woran feststellen, daß sie es w a r? Da lebst du jahrelang mit einer Frau, nur um dann festzustellen, sie i s t es gar nicht. Wie es konnte jemand in solcher Unsicherheit aushalten? Nur eines wußte ich, auf ein einziges Indiz ließ es sich verlassen: Ich erinnerte mich sehr genau daran, wo in der Decke diese erste Vertiefung, dieses erste Kraterloch gewesen war. Daran würde ich es erkennen.
Aber — ich? Wer würde es erkennen? Gab es nicht auch mich in Varianten? Konnte sich einer selbst begegnen? Wieso war ich übrigens eben nicht daheimgewesen? Meine Anwesenheit hatte „Christine“ in keiner Weise überrascht. Was war mit ihrem „wirklichen“ Zilts? Machten „wir“ uns immer alle zugleich auf den Weg, wenn es mich wie jetzt in die Zwischenwelt zurückzog? Dieses völlige Durcheinander, die Vorstellung unendlich vieler Meinesgleichen, die alle simultan an so einem Wandloch hingen, ließ mich schwindeln… und fast hätte ich einfach losgelassen und wäre rückunter wie ein Käfer auf den Boden geknallt.
Der Adrenalinstoß ließ mich nachgreifen und endlich hineinzerren. Diesmal war der Eingang nur schmal und ließ es nicht einmal zu, daß man auf Knien voranrutschte. Ich mußte mich ein paar Meter robbend in die Tiefe hineinzwängen, obwohl ich nun paar Sachen dabeihatte… und viel zu dick angezogen war. Dann schraubte mich der Gang unvermittelt in eine gewendelte Höhe, die ich wie einen Kamin erklomm, da es keinerlei Vertiefungen, geschweige Stufen gab. Stück für Stück stemmte ich mich hinauf. Ich brauchte fast zwanzig Minuten, bis ich klitschnaß vor Schweiß oben ankam. Mit einem letzten Ruck zog ich mich auf das Plateau.
Es war dunkel. Wie gut, daß ich an die Taschenlampe gedacht hatte. Ich lag am Rand der senkrecht abfallenden Röhre und leuchtete den Gang aus, der sich beidseits cañongleich in die Ferne dehnte. In dem übern Boden gleitenden Lichtkegel waren dunkelstumpf eine ganze Reihe weiterer Bodenöffnungen zu ahnen, das Plateau war durchlöchert davon, und zwar auch an den Seiten sowie der schmal gewöbten Decke. In einigen Gängen stand das milchige Licht, andere waren komplett dunkel. Sie konnten auch tot enden, wer sagte denn, daß es hier nicht ebenso viele Sackgassen wie Verbindungsschächte gab?
Langsam richtete ich mich auf. Nach rechts jetzt, links? Besser gar nicht an all die Weggabeln denken!
Vorsichtig schritt ich zwischen den Schächten hindurch, leuchtete in diesen, in jenen. Manchmal sah es aus, als bliebe der Lichtkegel in Samt stecken. Aber auch der Cañon selbst nahm kein Ende. Ich war schon wieder Stunden unterwegs, so kam es mir vor. Immerhin wurde es heller, als dimmte sich irgendwo langsam eine Lampe auf. Das war nicht wie bei morgendlichen Sonnenaufgängen, die ja ebenfalls so etwas Stetiges und Gleichmäßiges haben. Sondern ich kam mir beobachtet vor. Dabei stieß ich, anders als bei meinem ersten Eintritt, nirgendwo mehr auf solche Spuren von Zivilisation wie damals auf die aufgeschichteten Baumstämme. „Damals“? Was d a c h t e ich! – Ich mußte voran, es half nichts.
Ich erreichte abermals einen der Verteilersäle, als ich etwas hörte. Erst dachte ich, mir das nur einzubilden, aber dann wurde es deutlicher: Eine Art leises Wimmern schien indirekt, abgedämpft sozusagen, über den Boden zu ziehen, als drückte man jemandem ein Polster auf den Mund. Aber niemand war zu sehen, auch in den Gängen dieses Relais’ nicht. Dann hatte ich den Eindruck, das Wimmern steige aus dem Boden auf. Weshalb ich mich hinkniete und das Ohr auf den groben, gipsartigen Stein legte. Tatsächlich! Da weinte jemand. Und zwar aus der Richtung, aus der ich selbst hergekommen war, allerdings wie ein Stockwerk darunter. Wahrscheinlich gab es einen direkten Zugang, an dem ich in meiner Verwirrung vorbeigegangen war. Nun leuchtete ich die Wände und den Boden akribisch mit der Taschenlampe ab.
Ich mußte kaum mehr als fünf Minuten zurückgehen, um das Gejammer geradezu handfest in den Ohren zu haben. Doch anders als angenommen, kam es nicht von unten, sondern ganz offensichtlich aus einem Seitenschacht, in den ich mich irgendwie hinüberteufen müßte (ein Ausdruck, den ich selbstverständlich erst später lernte). Jedenfalls schien er sehr nah dem meinen, wahrscheinlich mit ihm parallel zu verlaufen.
Ich tastete die Wand ab, vielleicht gab es ein paar lose Steine oder Mörtel war herausgebrochen. Sie faßte sich wie tapezierter Rigips an. Als ich dagegenklopfte, klang es tatsächlich hohl. Deshalb holte ich aus und trat mit dem rechten Fuß dagegen. Und wirklich: Eine ansehnliche Delle. Das Weinen hörte unmittelbar auf.
„Ist da jemand drin?“
Ich erhielt keine Antwort, war mir aber sicher. Also noch zweidreimal in die Wand getreten, dann splitterte ein pappener Durchbruch. Er staubte allerdings furchtbar. Ich trat n o c h heftiger, trat aus der Hüfte, bekam eine veritable Öffnung hin, konnte mich durchzwängen.
In dem Nebengang kauerte am Boden eine noch in ihrer Ducke deutlich hochgewachsene Gestalt, die einen Annorak trug, die Kapuze übern Kopf gezogen. Dennoch merkte ich sofort die Frau. Sie wimmerte freilich nicht oder nicht mehr.
,,Hallo“, sagte ich. ,,Hallo, Sie…“
Wahrscheinlich hatte sie Angst und stellte sich taub. Ein atavistischer Reflex, den ich aus meinen Experimenten mit Nagern gut kannte.
„Sie müssen meine Angst haben, ich will Ihnen nichts tun.“
Vorsichtig ging ich auf die Frau zu, wollte sie ja nicht gänzlich verschrecken. Ich streckte eine Hand aus, um sie sanft zu berühren, da schoß die Person urplötzlich hoch und schleuderte herum, wobei sie ein häßlich meckerndes Lachen ausstieß. Und auf nackten Füßen davonrannte.
Ich stand verschreckt da. Noch nie hatte ich solch ein Antlitz gesehen, weiblich, ja, aber keine der mir bekannten Völker hatten ähnliche Gesichtsmerkmale. War ich auf eine verschollene, anderswo längst ausgestorbene Gattung gestoßen? Völlig egal! Ein lebendes Wesen… und jemand, der mir vielleicht Auskunft geben, mir vielleicht zeigen konnte, wie ich nach Hause kam.
Bloß hinterher! Ich mußte die Frau erwischen, bevor sie in den nächsten Verteilerraum gelangte.
Sie war schon weit voraus, aber im Gang hallte das Klatschen ihrer Füße, und ich bin ein geübter Läufer. Keine Frage, daß ich sie einholen würde; sie hatte trotz ihrer Größe sehr fragil gewirkt und war vielleicht schon vom Weinen oder doch eher davon erschöpft, was es ausgelöst hatte, von Trauer, von Schmerz. Tatsächlich hatte ich sie dann auch schon vor mir.
„So bleiben Sie doch stehen!“
Ich sprang. Versuchte, das Geschöpf am Anorak zu packen. Es blieb auch stehen. Drehte sich um. Und mit ungeahnter Fratze, in der eine Art glühendes Lachen brannte, gab mir die Person einen Tritt. Und noch einen. Ich war viel zu überrascht, um mich zu wehren. Bekam einen weiteren Tritt ab, dann einen Hieb. Ich wich zurück, verlor den Halt, strauchelte, jemand riß den Boden unter meinen Füßen weg. Ich stürzte abermals hinab.
Und während ich fiel, jubilierte mir das Geschöpf ein gackerndes, spöttisches Lachen hinterher.

[eingestellt am 5.7.2004, 1.15 Uhr]

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