Mit flehendem Blick, denk ich heute, werd ich zu dem Loch hochgeschaut haben, doch eine nächste Spontanflucht gelang nicht. Vielleicht weil mich Clausnitzer am Arm nahm.
„Wir müssen uns jetzt wirklich beeilen.“
Fünf Minuten später stand ich am Kopfende des Tischs im Besprechungszimmer, und Clausnitzer, nach kurzer Begrüßung der Anwesenden, bat mich um den hinleitenden abstract. Verwirrt stand ich den Kollegen gegenüber, stotterte einige mikrobiologische Einleitungsfloskeln, dann, geradezu mechanisch, warf ich ein paar Formeln aus dem Ärmel, die von irgendwo aus dem Inneren meines Unbewußten stiegen, ohne daß ich selbst mit ihnen irgendetwas hätte in Verbindung bringen können. „Dimethyltryptamin“, sagte ich schließlich, „ist, wie Sie wissen, diesem aus Krötensekret gewonnenen Bufotenin außerordentlich ähnlich.“ Ich drehte mich um, während ich das Kreidestück aus der Kitteltasche fingerte, und schrieb den Term an die Tafel. Dann bat ich darum, den Overheadprojektor einzuschalten, und entnahm meiner Aktentasche die vorbereiteten Folien. Zugleich hatte ich keinerlei Ahnung, was ich da eigentlich sprach. Ich wurde immer verwirrter, aber schien etwas unmittelbar Bedeutungsvolles gesagt zu haben, denn die Kollegen wurden auffällig unruhig, tuschelten sogar; zweidrei starrten mich fassungslos an. Und stellten Fragen. Ich merkte, wie ich lächelte, daß ich amüsiert war, aber ich bekam nicht mit, worüber. Ein Mann wurde latent aggressiv. Glücklicherweise fuhr mein rechter Zeigefinger über die Oberfläche des Konferenztisches. Ein Altar, dachte ich, das ist ein Altar! Ich ertastete eine Vertiefung in der Platte des Konferenztisches. Während ich mich dahineinversenkte, sprach ich so beiläufig wie möglich weiter, spottete, glaub ich, sogar… und murmelte noch, als ich mich längst den Schacht hinabschob.
Zum ersten Mal drang ich nun gleichsam von oben in die Zwischenwelt ein, immerhin nicht kopfüber, sondern ich klomm mit den Füßen voran, langsam und immer wieder nach neuem Halt tastend, schachtabwärts. Die sich bisweilen verbreiternde, zweidreimal aber auch ziemlich engwerdende Röhre läßt sich, glaube ich, am besten mit einem Kamin vergleichen, in dem ein Bergsteiger klettert. Es war eine anstrengende Fortbewegung, ich hatte ziemliche Angst abzustürzen. Dennoch war das nicht ohne Reiz, es war ja durchaus komisch, was im Innern des Konferenztisches vor sich ging, vor dem, ich war mir ganz sicher, die Kollegen immer noch standen, um einem Mann zuzuhören, ihm zuzustimmen, ihn zu befehden, der, ohne daß sie es gemerkt hatten, ausgetauscht worden war. Denn selbstverständlich war von irgendwoher ein anderer Zilts in den Kittel gefahren, um meine kurze Rolle weiterzuspielen. Ich konnte nur hoffen, er sei vertrauter mit der Materie, als ich es eben gewesen war. Und angelte schon mit beiden Füßen im Freien. Unter mir der Lichtdunst, der mich keinen Boden erkennen ließ. Sollte ich einfach loslassen? Doch die Säle waren hoch, ich wollte mir nicht den Knöchel verstauchen. Und was, wenn am Grund unter mir ein anderer Schacht wieder hinausführte und ich einfach durchfiele? Aber es blieb keine Wahl.
Tatsächlich war dieses Relais kaum mannshoch, und es gingen ausschließlich Schächte nach oben von ihm ab. Ich mußte mich bücken, um den Kopf aus meinem Eingang zu bekommen. Mußte sogar ungefähr hundert Meter gebückt weiterschreiten, bis sich die Decke allmählich hob und der sonst diskusweite, flache Raum, der mich spontan an eine Umwälzmündung erinnerte, aus deren Decke Hunderte Klimaröhren führten, nicht nur verengte, sondern zu einem der Gänge wurde, wie ich sie kannte. Nach vielleicht weiteren fünfhundert Metern kam ich in einem der üblichen Verteilersäle heraus.
Aber ein älterer Mann saß zwischen drei Tapetentischen, die er u-förmig aneinandergestellt und mit Büchern, unzähligen Blättern, Stiften und lauter, meist leeren Bonbontüten angefüllt hatte, neben ihm zwei Kaffeebecher. Er trug einen braunkarierten Anzug, Stulpenstiefel und Seidenfliege. Es gab eine Couch und weiter hinten eine Kommode, aus deren unterer aufgezogener Schublade Wäsche quoll, ein paar Wasserkanister, eine Waschstelle. Die Szenerie hatte etwas völlig Unglaubwürdiges. Aber es war keine Fantasmagorie, denn als ich hüstelte, drehte er sich, den Federhalter noch in der Hand, herum und sagte mit frischer, fast aufgeräumter Stimme: „Sieh da, sieh da! Ein Wanderer.“
Ich blieb stehen, schwieg wieder. Es läßt sich nicht anders sagen: Der Mann hatte, so freundlich er auch wirkte, etwas Bedrohliches.
,,Ja, da staunen Sie, nicht wahr?“ sagte er und stand auf. Ging auf mich zu, elastisch, für sein Alter, meinte ich, viel zu agil. Mißtrauisch tat ich einen Schritt zurück. Er bemerkte es und blieb stehen. „Sagen Sie?“, fragte er, „verstehen Sie mich?“ Und wie in sich selbst: „Es wäre schon ein arger Zufall.“ Wieder zu mir: „Do you speak English? Parlez français? Italiano?“ Dann irgendwas, das russisch klang, asiatisch, schließlich: „Seguro que usted eres un español?“ Als ich aber nun immer noch nichts sagte, rieb er sich mit zwei Fingern der Rechten die Nase und murmelte wieder für sich selbst: ,,Nun, dann eben nicht. Ich sag’s ja immer: scheues, verlorenes Völkchen.“ Freundlich sah er mich an. „Wie schade. Wirklich schade. Aber gut. Wissen Sie, mein Freund, dann gehen Sie halt Ihres Weges. Und lassen mich alten Mann meinen Studien nachgehen. Nein, nein, ich will nicht unhöflich sein, Sie können auch bleiben, legen Sie sich meinetwegen etwas auf die Couch. Vielleicht werden Sie ja gesprächig, wenn Sie etwas Vertauen gefaßt haben.“ Und mit dem Seufzer „was für arme Tiere!“ wandte er sich weg. An seinem Platz beugte er sich, als hätte er mich vergessen, abermals über seine Papiere. Schlug ein Buch auf, blätterte in ein paar aneinanderhängenden Listen oder Tabellen. Dennoch, er konnte mich nicht täuschen. Aus dem Augenwinkel, spürte ich, beobachtete er mich sehr genau, ja achtsam weiter. Als ginge nicht von ihm, sondern von mir Gefahr aus.
In diesem Momente war erneut eine Prozession zu hören: Musik aus Kofferradios, Germurmel, das helle blecherne Schellengeklapper. Schon traten die Leute wie ein zäher Fluß aus dem Gang und zogen sich, ohne auf uns auch nur zu achten, zwischen uns hindurch. Konsterniert starrte ich ein paar Minuten später dem sich durch den gegenüberliegenden Gang davonwindenden Zug hinterher, der dem lesenden Mann gewissermaßen durch das Wohnzimmer geflossen war. Auch er starrte hinterher, aber irgendwie melancholisch, als hinge er Erinnerungen nach.
,,Sagen Sie, wer sind die?“ fragte ich endlich.
Langsam wandte er sich zu mir. ,,Ach, die haben sich beim Sterben noch einmal davongestohlen. Jetzt ziehen sie hier herum in ständiger Furcht, durch einen Schacht in ihren Tod zurückzufallen. Aber glauben Sie mir, die Wahrscheinlichkeit, daß das passiert, ist gering.“ Er lächelte. „Soso“, sagte er. „Sprechen können Sie also d o c h.“