Jeder Schritt, der mir gelingt, wirbelt, wie Staub, ganze Hocken vergessener Zeit auf, die sich erst langsam wieder über Boden und Gegenstände zurücklegt. Ich bin schwerer als die Dinge, noch immer, schwerer als diese Zeit, weshalb sie dazu neigt, sich in kleinen schrägen Haufen an meine Füßen zu lagern: Das ist es, nicht etwa der Filz, was sie so festhält. Ich muß nur lange genug an einer Stelle stehenbleiben. Man kann es fast sehen. Meist aber folgt der Zeitstaub der ungleich massiveren Gravitation dieser Bilder. Die auch auf mich wirkt, auf etwas in mir, das aus meinen Augen, meinen Ohren, aus Mund und Nase entweichen will. Doch immer noch nicht kann. Jedenfalls nicht, begebe ich mich nicht endlich wieder auf diesen Tisch zurück. Noch schau ich stur die Stilleben an. Viel totes Tier. Rißzeichnungen, anatomische Studien. Jagdszenen, auf denen Eber verbluten. Ein Schlachtpanorama, deutlich an Tübke gemahnend. Dazwischen Früchte und Schalen. Zerlegte Insekten von Modellflugzeuggröße. Gräser und Obst. Meditationen über Muskeln und Sehnen, wie DNS in sie verdreht. Sie könne sich bemühen, wie immer sie wolle, hatte mir die Dame erzählt, immer fehle dem Abbild das Leben. Imgrunde sei ihr keines dieser Bilder gelungen. „Es ist keine Frage des Handwerks, verstehen Sie das? Ich bin überzeugt, es liegt am Modell.“ Doch ich, ja, ich, davon sei sie überzeugt, könne ihr helfen. Wenn ich denn wolle. Es stehe außerhalb ihrer Macht, mich zu zwingen. Man müsse bereit sein, alles andere wäre vergeblich, so oder so. „Sie sind ein so schöner Mensch! Und ein kluger Mensch! Sie werden sie mir zeigen, werden sie mich malen lassen: Ihre Seele. Nur darum, nur um Seele, geht es mir. Keinem Künstler, der das auch w a r, ist es je um etwas andres gegangen. Nur darum tragen wir alle das Risiko wie eine ständige“, sie hob die Fingerrücken zur Schläfe, „Migräne: daß wir das tiefste Innere unserer Gegenstände verfehlen.“
[Die Niedertracht der Musik.]
mit staunen diese stelle nun 2mal gelesen, und stets die erste hälfte, die mich gefangen nimmt und weiterlesen läßt… ich weiß nicht, wie sehr die assoziation zu „guantanamo“ damit zu tun hat, das ich angefangen habe zu lesen, ich kann das jetzt nicht ausloten… d.h. nicht, daß ich eine kausale verbindung herstelle… assoziationen sind für mich nicht kausal, sondern finden ihren grund in meiner eigenen kausalität… herr analytiker, bitte, erklären!
Ihr Gefühl ist beachtlich! Und weiter als das meine. Das jetzt nur zustimmen kann. Aber mir selbst war der Zusammenhang nicht klar. In „Kette“ ist ebenfalls einer gefangen und kommt niemals mehr heraus; es ist eine Art nach außen gekehrtes fantastisches Innen-Gefängnis, auf das schon die Form verweist. „Kette“ ist hier nämlich nicht nur Titel, sondern vor allem Konstruktionsmerkmal: Der letzte Satz des vorigen Absatzes geht unmittelbar in den ersten des nächsten, aber auch des übernächsten über; der letzte Satz des nächsten Satzes in den ersten des übernächsten und überübernächsten…. und so fort… wirklich ad inf., da der letzte Satz des letzten Abschnitts unmittelbar in den ersten des ersten Abschnitts übergeht. Auf diese Weise entsteht ein Rad, das aus überkreuz ineinandergreifenden Kettengliedern besteht.
ich glaube, Sie geben selbst die antwort: „ineinandergreifende kettenglieder“, aber hier solche, die außerhalb des textes liegen, wenngleich durch den text selbst hervorgerufen. einen tiefen eindruck hat bei mir der zeit aufwirbelnde schritt (das bild!) hinterlassen, wobei die zeit dann schneewehen oder dünen an den füßen entstehen läßt… dann die still-leben (leider kann ich jetzt den text nicht nachlesen, die funktion „antworten“ auf einen kommentar zeigt leider nur den zu beantwortenden kommentar an). ketten. kurz: Ihr text nahm mich gefangen, und das sollte ein text, jenseits von guantanamo und welt. aber diese verknüpfungen bereichern. lector sum und darum ist oft auch das wahr: lector in fabula est fabula in lectorem (ich hoffe, das latein ist korrekt).