Kette. (5).

Ich mußte und mußte gucken, hatte nicht einmal mehr den Impuls wegzuschauen. Bloß und gehäutet flezte sich meine Angst in den Zeichnungen, die Martha Werschowska Blatt für Blatt aus der Mappe löste und Blatt für Blatt aufeinanderlegte. Sie zeigten Fleischstücke, nichts als herausgetrennte Innereien, auch separierte, offene Wunden. Es waren mit nahezu fotografischer Besessenheit rekonstruierte Studien der Anatomie. „Bitte seien Sie nicht enttäuscht. Hier und da mißlingt mir immer wieder mal ein Strich. Das ist sehr ärgerlich, ich weiß, aber es sind ja nur Etüden.“ Sie arbeite gern nach der Natur. Allein im Kopf entstehe bei ihr nichts. „Und glauben Sie mir, es ist nicht leicht, an die Objekte zu kommen. Man kann sie in Formalin kaufen, das schon, oder man beantragt Zutritt in der Pathologie. Aber das i s t es nicht, Herr v. Darlhaus. Sondern das Fleisch muß noch warm sein, muß leben. Sonst ist doch die Seele längst weg. Nur in der Wunde bekommen Sie sie hautlos, also unverstellt, zu fassen. So, daß sie einen nicht durch ihre kosmetische Erscheinung täuscht. Gehen Sie spazieren, besuchen Sie Feste, schauen Sie sich um: Im heilen Körper v e r b i r g t sich die Seele. Nur im versehrten, weil sie dann schwach ist, können Sie sie zu fassen kriegen. Aber selbst da, Sie sehen es selbst, schlüpft sie nur allzuschnell weg.“ Wie oft schon habe sie geglaubt, etwas davon ins Bild bekommen zu haben! „Und wie oft war hinterher gar nichts mehr da!“ Sie finde das zunehmend unerträglich. Aber gebe nicht nach. „Alles ist, Herr v.Darlhaus, so – unsauber!“ Genau danach, nach Unsauberkeit, stand mein Bedürfnis in diesem Moment. Deshalb bat ich darum, rauchen zu dürfen. Zwar rauchte ich seit Jahren nicht mehr, hatte auch gar keine Zigaretten dabei, nun aber, in Gegenwart solcher Sterilität, wäre mir jedes Streichholz, das Tabak entzündet, wie eine Fackel vorgekommen. Außerdem bekam ich dadurch einen Grund, das Atelier, die Wohnung, das ganze Haus zu verlassen. Doch die Dame ignorierte meine Frage, zog statt dessen eine weitere Zeichnung heraus, bei deren Anblick mein Herz zu schlingern begann, derart schwindlig machte es einen.

[Die Niedertracht der Musik.]

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