DTs. (29. November 2004).

5.58 Uhr:

Das Bild von der Nebelkammer, durch die die Spuren zerfallender Allpha- und Beta-Teilchen ziehen – kurze dünne Fäden und raupenartige Blähungen -, hat mich die ganze Nacht im Schlaf beschäftigt. Was ich den Jungs erklärte: Alles, wir, der Raum, der Boden, die Versuchsgegenstände, die Berge und Häuser, der Kosmos selbst, sei durchzogen davon, so daß die Verfaßtheit von Welt, fotografierte man sie, aussähe wie eine tausendfach gesprungene Milchglasscheibe… das bündelte sich offenbar in mir und führte zu einer ganzen Szene ARGO, die ich unbedingt in den Roman hineinnehmen wollte. Eine Spiegelszene mit dem Erzähler selbst, dreifach, doch eine der Ableitungen scharf erkrankt, ganz wie Dorata, unheilbar, obendrein ansteckend. So daß ich mir sagte (alles im Traum), das müsse ich korrigieren, und (weiter im Traum) damit auch sofort begann, woraus weitere Korrekturen, teils nur in Klammern, als Möglichkeiten, folgten, schließlich stand da eine halbe Seite schillernder, fertiger Text. Und ich erwachte.
Jetzt sitz ich am Küchentisch der Kinderwohnung und weiß nicht, wie und wo ich das kleine Kapitel einfügen soll. Es gibt keinen Anschluß bislang, ist wie aus einer Ferne herübergesprochen, deren Zugang ich nicht kenne. Aber vielleicht wird es diese Notiz hier sein, die ich einfügen werde. Diese Reflektion selber.






Tagesplanung




6.15 Uhr:

ARGO.

7.15 Uhr:

Den Kleinen wecken, anziehen usw. In die Kita bringen. Wechsel in die Arbeitswohnung.

8.30 Uhr:

ARGO ff.

10 Uhr:

DIE DSCHUNGEL.
Post.

11 Uhr:

Analyse.

12.30 Uhr:

Mittagsschlaf.

13.30 Uhr:

PHANTASTIK-Aufsatz.
DIE DSCHUNGEL.

21 Uhr:

Mit Lethen in die Bar?






13.52 Uhr:
[Schnittke, Chor-Konzert auf Nerekatsi.]

Das zweite Mal schon aufgeschreckt und die Tageszeit verwechselt; vollkommen entsetzt, daß es draußen schon hell ist; so tief ist der Mittagsschlaf gewesen, daß ich annahm, es sei bereits der nächste Morgen. Dabei bekam ich auch die Zeit, die der Wecker mir zeigte, nicht auf die Reihe. Außerdem, wie bereits heute nacht, ARGO verträumt, diesmal nicht im Umkreis der Konstruktions- und IchÄsthetik, sondern tief in den mythischen Osten hinein: Das Wiederwachen des Achäers und wie der vom Erissohn erzählt und von Peleus und sich auf etwas beruft, das ich tatsächlich nie gehört habe: „Die Legenden von Moro“, was immer das sei, ich werde im Netz recherchieren. Sollte ich nicht fündig werden, werd ich diese Legenden ‚erfinden’. (Mir fällt jetzt am Schreibtisch, wie morgens [!] den latte macchiato neben mir, nur Aldo Moro ein und auch das nur überaus leer, nur als einen assoziierten Begriff, der ebenfalls zu füllen wäre.)
Dann diese Schnittke-Musik, zu der ich nie, auch nicht in meiner leidenschaftlichsten Schnittke-Zeit, ein Verhältnis hatte. Noch am Freitag legte ich sie, weil mir nach Schnittke war, wieder einmal heraus, um’s mit ihr zu probieren. Nahm sie aber nicht mit in die Kinderwohnung. Seit heute vormittag, als ich dem Impuls nachgab, die CD einzulegen, hör ich das Konzert wie berauscht zum nun schon dritten Mal.

Der Wikipedia-Eintrag über mich, entdeckte ich am Wochenende, spricht nach einem ziemlich guten Satz über meine Fantastische Literatur von Kritikern, die mir immer wieder Kolortage vorwürfen. Das ist heiter. Diesen Vorwurf hat einmal vor Jahren Uwe Pralle in der FR erhoben (wegen der Sizilischen Reise, in Wahrheit aber wegen einer Frau); das scheint sich zu einem „immer wieder“ zur Stanze verdichtet zu haben.Und: Wie geht man mit einer objektiven Falschangabe über sich selbst in einem Lexikon um? Berichtigt man das bei der Redaktion? Das hätte etwas Peinliches (man hat ja, pfui, was über sich selbst gelesen). Hab eine kurze Mal darüber an Gassner geschrieben. Das große Kaddish-Buch Paulus Böhmers ist nun wirklich nicht von mir mitverfaßt, geschweige auch noch von Eva Demski. Man kann nur den Kopf schütteln: Wie recherchieren die denn, die solche Lexikonartikel verfassen?

Nun aber an den Phantastik-Aufsatz. Meier-Lenz von den horen hat mir nun doch die Abgabefrist bis notfalls zum 15.12. verlängert. Da w e r d e ich fertig, das ist ganz großartig.

Anruf noch von Imke Wallefeld: Ich soll ein Stunden-Feature über Marianne Fritz schreiben; es gibt in der entsprechenden Sendung zwar nur das halbe des sonst üblichen Honorars, aber der Wortanteil soll auch geringer sein, und es ist keine solch enge Konstruktion gefordert, wie sie meine Stücke sonst haben. „Etwas lockerer, für jugendliche Erwachsene.“ Na ja, zweischneidig, ich k a n n ja imgrunde gar nicht anders.





0.02 Uhr:

Bereits um zwanzig nach acht beim Anwaltsfreund, neue und die alte, so traurige „Sache“ durchgegangen; die Frage nach der Collage wird im Hoch-Kapitalismus zunehmend virulent. Irgendwann zeig ich auf ein Gemälde von Wolf Vostell, das bei ihm hängt, und frage, ob Vostell für den verwendeten Mercedes-Stern hätte Gebühren zahlen müssen. Es wird juristisch immer klarer, daß Kunst in ihrer emphatischen Form in der Warengesellschaft keinen Platz mehr hat, jedenfalls keinen, der nicht Sanktionen ausgesetzt wird. Man kommt sich schon vor wie Mozart bei Nozze, nur daß Zensur nicht mehr staatlich (lehnsherrlich) ausgeübt wird, sondern über pekuniäre Privatinteressen. Der Generation Pop ist das schnuppe, die bezahlt ja gerne, wenn sie Konsum dafür kriegt.
Kleine Auseinandersetzung mit dem Freund um Funny van Dannen, auch das ein profaner imgrunde Possenreißer: Stellt sich hin und singt „Ich kann nix“ – und weil das Publikum halt a u c h nichts kann, bejubelt man ihn aus lauter begeisterter Identifizierung. Der Mann ist pfiffig; man zahlt ihn dafür, daß er einem vorführt, wie mies man ist und daß das hip ist. Was er wiederum weiß und nicht ohne Virtuosität in Szene setzt.

Der Schuster, der keiner ist,
Hat keine Schuh.
Drum jubelt man su
Wie man – naturbefähigt –pißt.

Dafür gibt’s dann Leonce & Lena.

Völlig Banane das alles.

Heimgeradelt, der wirklich innige, der wirklich nahe Freund ging ins Kino. An den Phantastik-Aufsatz gesetzt, ein paar Ideen kamen noch. Eine kluge Dschungel-Frage wurde gestellt. Vorher, Höhe Alex auf dem Rad, die Erkenntnis, wie lang ich schon nicht mehr weiß, wie es sich i n einer Frau anfühlt. Bei allen sexuellen Eskapaden: Geschlafen hab ich seit … Moment… keine Ahnung…. ich verweigere ja Präservative, muß also sortieren… ist wirklich schwierig… na, jedenfalls seit paar Wochen mit keiner mehr. Nur noch ARGO, ARGO und – die eine. Die nicht mehr da ist. Daß ich damit andere Frauen verletze. Wie schnuppe mir das zur Zeit ist.
Dann wirkte der Wein. Jetzt. (Die richtigen Tasten treffen, ich darf gar nicht sagen, wie oft ich korrigiere, weil ich ortografischen Unsinn tippe.)

Arbeitsfortschritt:
ARGO, bis TS 92.
Phantastik-Aufsatz, bis TS 7