19.39 Uhr. ICE FFM-Berlin. Seit 19.20 auf Fahrt.
[Händel, Alcina.]
Mir war und ist nach Händel; walkmen sind eine fantastische Erfindung. Ich sitze im Bordtreff des leicht verspäteten ICEs, der durch den bereits wie tiefe Nacht wirkenden frühen Abend braust, als hätte er tatsächlich vor, verlorene Zeit aufzuholen. Die Waggons sind proppevoll, ich hab mich deshalb g l e i c h in den Speisewagen verfügt. Mit einem Mal war die Messe zuende, eben lasen Schimmang, Loschütz und ich noch im Lesezelt, da wird in den Gängen schon abgebaut gesägt gewuchtet. Nüchterner k a n n so etwas nicht zuende gehen. . Dabei war es unterm Strich denn doch eine gute Messe für mich, bei allem befürchteten Spießrutenlaufen. Eher das Gegenteil wurde mir zugereicht, „es ist gut, daß du nicht weichst, es macht Mut, daß du fest bleibst und dich nicht verbiegen läßt, danke für dein Rückgrat.“ Ich bin wirklich ein wenig stolz, weniger geschmeichelt, sondern vor allem seltsam erstaunt, daß eine bestimmte Haltung auch s o wirken kann… nicht bei allen, nein, aber es gibt offenbar Leute, die sehr wohl verstehen, was in diesem Betrieb gespielt wird. Und denen mein Widerstand etwas bedeutet. Das ist noch nie so deutlich gewesen wie dieses Jahr. „Weißt du“, sagt http://H.Th., „es ist doch so: Jemand macht einen nieder und kommt am nächsten Tag und tut schön. Ist man dann nett zu ihm, dann bestätigt ihn das, denn er kann sich sagen: ‚Dem habe ich gewaltig eine reingejagt, aber meine Macht ist so groß, daß er sich fügen und auch mir freundlich gegenübertreten muß.’ So etwas e r h ö h t das Machtgefühl. Wenn d u nun Namen nennst und die Strukturen öffentlich aufdeckst, machst du ihnen dieses Spiel kaputt. Und d e s h a l b sind sie sauer. Du wirst zum Spielverderber und Nestbeschmutzer. Und als solchen behandeln sie dich.“ Nun ja. „Kannst du mir bitte von ARGO Text schicken?“ fragt der berühmte K. „Das kann nicht angehen, daß du ohne großen Verlag bist. Ich werde mich einsetzen, das sage ich dir.“ Kopfschütteln bei Kollegen, auch bei Lektoren, die sich aber gegen die Verlagsleitung nicht durchsetzen können. Zumal ich keine so besonders guten Verkaufszahlen habe.
Dennoch gute Verlagsgespräche geführt, es gibt mehr Gewogene, als ich glauben konnte. Irgendwie ist ANDERSWELT ausgesprochen präsent, wenn auch strittig; eingeschrieben h a t sich die Trilogie bereits, freilich weniger tatsächlich über den Text-‚an-sich’ als über seine Fama, die deren Struktur ungefähr der mangelnden Erdung meines schlechten Rufes entspricht: Sehr sehr vieles begründet sich über ‚reines’ Hörensagen, über Tratsch und böse Nachrede, die zu naiv-dummer Nachrede und schließlich einem ‚allgemein Gewußten’ wird, dessen Gründe die dann neuen Wissenden selbst nicht kennen; manche kommen erst gar nicht mehr auf die Idee, ihre Informationen darauf zu befragen, ob es sich bei ihnen nicht um ein fremdes Geglaubtes handelt. Egal. Ich sollte wirklich auch nicht vergessen, daß seinerzeit WOLPERTINGER ODER DAS BLAU mehr als 30mal abgelehnt wurde, praktisch einmal quer durch die deutschsprachige Verlagslandschaft, bevor der Roman dann bei dem kleinen, damals errst neu gegründeten axel-dielmann-verlag erschien – und auch da ja nur, weil ich – seinerzeit gerade noch an der Börse – einen Financier gefunden hatte, der einiges sehr Erkleckliche in die Produktion des Romans hineintat. Wäre es jedenfalls nach dem etablierten Literaturbetrieb gegangen, hätte es bereits d i e s e n Roman als Buch nie gegeben.
Gestern schließlich die Lesung in Stuttgart, ich bin morgens erst gar nicht mehr auf die Messe gefahren, sondern habe das Fahrrad zurückgebracht und mit der mütterlichen Freundin Lydia zusammengesessen und gesprochen gesprochen gesprochen, dann, bereits früh in Stuttgart angekommen, sofort nach dem Einchecken zur Staatsgalerie spaziert, die in ARGO ja Standort des Europäischen Zentralcumputers ist; Fotos der Räumlichkeiten gemacht und nach Orten gesucht, wo Deters seine Diskette einschieben kann, die in einer anderen Ebene des Romanes ein Sprengsatz sein wird. >>>> Oliver Gassner war noch bei mir, führte mich herum, wir entdeckten eine Seitentür und standen plötzlich, ohne Eintritt bezahlt zu haben, mitten in der Dauerausstellung. Hier gleich weitere wichtige Blicke. Keine Ahnung, welch ein kluger Teufel mich, als ich bis 1998 an THETIS schrieb, geritten hat, mir ausgerechnet Stuttgart und dort diese Staatsgalerie als Sitz des Zentralcomputers auszugucken; aber es paßt erschreckend gut: insbesondere die Architektur der Neuen Staatsgalerie ruft geradezu nach einer solchen Literarisierung. Das wird nun meine nächsten Tage füllen: Gern bekäme ich diesen dritten Romanteil bis Anfang November in der Rohfassung fertig.
Also die Lesung im >>>> Literaturhaus Stuttgart im Rahmen der Langen Nacht der Kultur; füfn oder sieben BusRund‚reisen’ von Veranstaltungsort zu Veranstaltungsort, Theater, Liederhalle, Oper, OffBühnen, Literaturhaus usw usf – ein wirklich riesiges Programm. Meine und der beiden Musiker Aufgabe: Von 19 Uhr bis 1 Uhr nachts in Permanenz vorzutragen und zu musizieren oder beides simultan vorzufühen. Ich wählte als strukturierendes Element die kleine prophetisch-psychotische Geschichte „Die Unheil“, die ich vor ein wenig mehr als einem Jahr auf Kiefers ‚Lilith’ geschrieben habe und deretwegen es in meinem kleinen Verlag tisch7 so seltame Widerstände gab. Es funktionierte beklemmend-prächtig.
20.22 Uhr. ICE FFM-Berlin. Fulda.
Was war noch? Meine dunkle geschliffene Brille ging verloren, an der ich sehr gehangen habe; vor einem halben Jahr, auf der Leipziger Messe, ist’s mein PerlenAnstecker gewesen; irgend etwas scheint zu l a s s e n, lassen zu m ü s s e n, wer sich gegen Widerstand durchsetzen will; das überträgt sich offenbar auf die Dinge, die einem nah sind. Auch s i e entfernen sich.
>>>> Ideen zu drei weiteren Erzählbändchen und einem vierten aus denjenigen Texten, die bereits fertig, aber noch nicht in Buchform veröffentlicht sind.
Abends, so eine Idee … … braucht wahrscheinlich den Abend, um sich rein zu wagen ins Hirn und dann wieder raus, etwa hier:
Wäre Dein Mammut ARGO als Fortsetzung, beispielsweise im 16er-Format, denkbar?
Apropos Stuttgart: Eigner erhält dort die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung, am 3. November, und noch weiß ich nicht, ob ich’s schaffen kann, hinzufahren. Fährst Du hin?
Einen abenteuergewohnten Gruß, AD
„Wäre Dein Mammut ARGO als Fortsetzung, beispielsweise im 16er-Format, denkbar?“ Ja… wenn die 16er t ä g li c h erschienen.