5.59 Uhr:
D a s war >>>> eine gute Lesung gestern. Sie hat einiges klagestellt. Auch, wenn Zschorsch etwa nach der Hälfte den Saal verließ. Hnterher hielt er mir vor: „Das war zu lang, zu lang!“ Ich: „Na hör mal, eine und eine Viertel Stunde!“ Er: „Dennoch, zu lang.“ Fand ich nicht, es hätte meinethalben noch weitergehen können, sowieso; wenn m i c h etwas packt, hör ich auch gerne z w e i Stunden zu, nur: Es muß halt packen. Aber ich bin Wagner-Ausmaße gewöhnt, ich habe Wollschläger den Ulysses rezitieren hören usw., das geht alles nicht in Häppchen a b. Und Häppchen mag ich auch nicht geben. Egal. Bin zufrieden.
Alexandra, die in derselben Nacht noch nach Venedig zu einem Treffen fuhr, wirkte sehr betroffen nach NULLGRUND, sie bekam den Ernst nicht mehr aus dem Gesicht. Ich schätze ihre Sensibilität sehr, sie hat etwas von einem Seismografen. Was ich erzähle, war angekommen; ich glaube: das gesamte Ausmaß. – Hinterher war ich noch mit drei der hiesigen Studenten weg, zwei hochgebildeten Österreichern mit Erasmus-Stipendium unter ihnen, eine lebende Form der Hochbildung; es machte richtig Spaß zu sprechen. Möglicherweise bleibt dieser Kontakt. PIZZINI, glaub ich, hieß die Kneipe. Die knorzige Barschheit der dortigen alten Wirtin ist kaum zu überbieten.
In einer halben Stunde muß ich hier weg, nach Berlin, um meinen Jungen und seinen quasi-Bruder herzuholen. Das wird dann lustig werden.
Aber mit dem Alkohol sollte ich vorsichtiger umgehen: ich hab schon wieder einen Kater; ohne Kopfschmerz allerdings, sondern der, sagen wir, Kreislauf kreiselt, die Blicke gehen über ein Schiff, das die schwere See stampfen läßt.
7.15 Uhr:
[ICE Bamberg-Berlin.]
Brotzeit. Danach ARGO. Von meiner 3-Seiten-Vornahme hab ich gestern nur 2 ½ geschafft.
(Mit fiel gerade, auf- und abgehend auf dem Bahnsteig, ein, wie sehr ich Ω vermisse. Aber es war ein ruhiges Vermissen, der Schmerz bohrte nicht.)
12.15 Uhr:
[Berlin, Kinderwohnung.]
Seit vierfünf Wochen zerbrech ich mir nun den Kopf darum, wer denn die Mutter des Sanften ist: mit wem hat Odysseus beisammengelegen? Und dann fällt mir heute im Zug der Name Veshyas ein – in ganz anderem Zusammenhang. Ich gehe den gesamten THETIS-Roman mit der Suchfunktion durch: und da steht dann eigentlich alles schon da, in Andeutungen, sicher, ganz ganz vorsichtig formuliert und später, ich war wirklich baff, in BUENOS AIRES noch einmal bestärkt. Sofort fing ich die Geschichte auszuerzählen an, es floß, und ich muß jetzt das Motiv eigentlich nur noch in ARGO nach vorne mit hineinfädeln. Daß ich Veshya aber auch da bereits zur nach Deidameia ranghöchsten Rebellin machte, die eben n i c h t in den Osten zurückging, ist ein „Zufall“, der mich restlos perplex macht. Leute, erzählt mir von künstlerischer Autonomie, was ihr wollt: tatsächlich aber, ist einer seinem Stoff ganz nahe, dann e r z ä h l t der s i c h.
Werd gleich mal in der Arbeitswohnung nach dem rechten schauen. Um drei hol ich den Jungen ab, um vier treffen wir uns mit Katangas Sohn an der U Schönhauser – und zurück geht’s nach Bamberg. Da die Jungs zu zweit sind, wird auch die Rückfahrt Arbeitszeit werden.
21.29 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg, Blick durch die Scheiben ins angehobene Dunkel. Graun, Cesare e Cleopatra.]
Zurück. Der Zug war derart voll, daß ich wegen der beiden Jungen den Übergang in die Erste Klasse zahlte. An Arbeit war dennoch nicht zu denken. Es gab kaum Bewegungsfreiheit… nun ja, wenn man von der Lösung meines Sohnes absieht:Jetzt sind beide Jungens über die hintere Mauer ins Dunkle abgeschwirrt. Ich packe aus, schreibe dieses hier, höre den wundervollen Graun. Trinke dazu einen Talisker und rauche eine Zigarre.