Dienstag, der 30. Mai 2006. Berlin – Bamberg.

4.53 Uhr:
[Berlin, Kinderwohnung.]
Mit etwas Verzögerung hoch – dreimal mußte das Mobilchen auf meinem Aufstehen insistieren. Locker schweren Inhalt verträumt, das war wohl klar. Ich bin aber nicht depressiv, nur enttäuscht, es ist vieles einfach nur billig. Aber selbst dann gilt >>>> das. Es ist ja doch keine Frage der Einsicht, sondern eine des Characters und Geschicks. Man könnte von Characterschicksal sprechen, wenn man annimmt, daß bestimmte Dispositionen zumindest mit einer hohen Wahrscheinlichkeit bestimmte ähnliche* Folgen haben, bzw. sie einen eher in solche als in andere Situationen bringen.
Gleichviel. Ich hab jetzt eine Dreiviertelstunde, bevor ich packen und aufbrechen muß. Die will ich für den Beginn des Librettos nutzen. Im Zug schreib ich dann dran weiter.

[*) Zu „Ähnlichkeit“ und „Identität“ siehe wiederum http://www.die-dschungel.de/ANH/download/download.php?URL=../txt/pdf/entelechie.pdf„target=“_blank“>>>>> d a s.].

… komme nicht ins Netz. Irgend etwas hakt hier wieder. Evtl. trage ich dann aus dem Zug nach oder, um zu sparen, erst in Bamberg. Es eilt ja nichts… (5.39 Uhr.) …ah, jetzt geht’s wieder. Aber aufgehalten hat’s.

6.45 Uhr:
[ICE Berlin-Bamberg.]
Was muß es meinen kleinen Jungen zerreißen! Und wenn nicht schon jetzt (was trägt er! was t r ä g t er!): Was wird es ihn eines Tages zerreißen, wenn er begreift! Ich bin so voller Gedanken, so plötzlich voller Angst um ihn. Wie soll ich jetzt das Libretto schreiben? Muß mich z w i n g e n.

9.35 Uhr:
[ICE Berlin-Bamberg.]
H a b mich gezwungen. Und es läuft. Eine völlig andere Imaginationshaltung, mit gebundenen Rhythmen, also lyrisch, zu arbeiten, als es die freie Prosa verlangt. Die Perspektive wird privat, deshalb ist die Kitschgefahr größer; im Gegenzug dazu ist der Text auch dann noch intim, wenn er die Person abstrahiert, das bedeutet: wenn er ihr Allgemeinheit (Allgemeingütigkeit) verleiht oder das zumindest versucht.
Ich versetze mich in eine Frau, das ist die von >>>> RHPP gestellte Aufgabe. Mir kommen jetzt meine ungezählten persönlichen Gespräche mit Frauen zugute, die vielen intimen Chats, die ich zum Teil heruntergeladen und archiviert habe, diese ganz anderen Perspektiven, ja Moralen. Und die dahinterstehende Hilflosigkeit, die eine qualitativ, nicht quantitativ andere als die von Männern ist. Beider hat ihre je eigene Tragik.
Noch ist das Libretto allerdings eher ein Schweifen denn Form.

Durch die neue ICE-Anbindung Berlin-Gesundbunnen/Berlin Hauptbahnhof/Leipzig/Bamberg/München wird die Zugfahrt psychisch enorm beschleunigt – das ist ganz auffällig. De facto hingegen wird bis Bamberg rund eine halbe Stunde gewonnen. Da ich von S Gesundbrunnen aus gefahren bin, habe ich den Eindruck, Bamberg sei jetzt an die örtlichen Berliner Verkehrsbetriebe angeschlossen: Das synaptische Netz wird immer dichter. Denn auch Vektoren der Infrastruktur sind solche der Kommunikation. >>>> Und Reisende sind Informationen. Man kann sich das gar nicht bildlich genug vorstellen: Auf das Kommunikationsnetz der natürlichen Wasserwege hat sich das zivilisatorische von Autobahnen Geleisen Straßen Gassen Pfaden gelegt, darauf liegt (noch nur) in den Knotenpunkten das Kanalisationsnetz, darauf wiederum – in verschiedenen Ballungsgraden – das Energieversorgungsnetz, und über all dem liegt das Informationsnetz der Radiowellen und schließlich das des mobilen Telefonnetzes. (Eine Idee, übrigens, in ANDERSWELT ist, daß die jeweiligen Netze nicht nur intern, sondern auch untereinander kommunizieren und sich im Extemfall eine Hardware mit der Software kommunizierend verbindet. Cronenberg hat das in >>>> eXistenCe vorzüglich in der Verbindung von technischer Hardware mit körperlicher, o r g a n i s c h e r gezeigt und beide überdies mit einer SpieleSoftware verbunden: es wird – und bleibt – schließlich ungewiß, was was ist. Das ist keine utopische Projektion, sondern rührt bereits heute an die Existenzfragen der Realität. Dagegen sind die meisten deutschsprachigen Autoren Schnarchbacken.)

10.40 Uhr:
[ICE Berlin-Bamberg.]
Der Kopf denkt denkt denkt denkt. Eine ganze F l u t werd ich nachher einstellen. Und auch das Libretto läuft.

11.48 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg. Regen.]
Angekommen, eine Post aus Hessen, die das Leben noch etwas weiter entlastet. Ich geh jetzt mal die elektronische Post durch, dann werd ich den Mittagsschlaf halten.
Auf >>>> china-blue geantwortet, deren Ton immer gerne polemisiert (nicht selten zu recht, da auch meine eigenen Beiträge das gerne tun), von der ich aber meine, daß man diese Polemiken um Spott und Ironie subtrahieren und dann ganz ernst und offen beantworten muß. Denn bei ihr wie bei mir steht Schmerz dahinter. Überhaupt ist eine Polemik ja hilfreich, weil und wenn man ihren Stachel spürt – es läßt sich dann die Wunde e r k e n n e n und danach, vielleicht, heilen. Polemiken o h n e Stachel, also Gefrozzel, findet sich hingegen im literarischen Entertainment der Gernhards & Co: …und sprach die schönen Worte:/“Gibt es hinterher noch Torte?“. Ach, was haben wir haben Glück mit dem Hölderlin-Preis!