18:57
Gestern abend dann lang hingestreckt auf den steinernen Fliesen der Terrasse, Ligeti-Project II (Lontano und so wei- so wei- so wei- t- er): sehr laut sehr leise je nachdem, das laute laut, das leise leise. Hingestreckt und über mir zwischen Dachrinne und Baumwipfeln der langsame für die Sterne siegreich verlaufende Kampf mit den weißen Wolken. Quer über mein behostes Geschlecht der jetzt sechs Monate alte Kater, ließ mich seine vielen kleinen spitzen Zähne spüren in den Fingern, im Handballen, im Armgelenk, dann seine Zunge ab und zu am Finger, die in sein Maul sich grub. Wie die vielen kleinen spitzen Sterne sich ins Auge gruben, und die vielen kleinen spitzen Töne, dann dunkle Schlünde, hingestreckt auf der Terrasse, ich mußte lächeln bei all diesen Ohren-, Augen-, Haut-Wahrnehmungen. Ich war allein mit mir. Noch später dann sah ich die Mondsichel untergehen. Als ich zu Bett ging, war sie noch nicht zurück.
Auch heute warte ich auf ihr „Irgendwann am Nachmittag“. Aber ich mag nicht warten. Dennoch ist sie noch nicht da. Sie sagt mir nicht, was sie tut. Ich frage nicht danach. Ich empfinde sie als abgespalten, und mich selbst auch. Sie hätte mit den Neffen hier eintreffen sollen, deren Bleiben bis morgen vorgesehen ist. Aber es passiert nichts. Dieser Tage gab es in der Provinzhauptstadt eine Art Festival. Das muß damit zu tun haben. Ich blätterte im Programm: Performances, Theater, Tanz. Sicher, das alles interessiert mich nicht so sehr. Aber daß ich davon vor ein paar Tagen erst im Radio etwas hören mußte, schmerzt. Sehr. Von ihr kam kein Wort.
Jetzt, in diesem Moment (19:14), fängt der Hund an zu bellen, Stimmen sind zu hören. Ich werde mich nun auf diesen „impact“ einstellen müssen.
Abgespalten Warum passiert das IMMER IMMER IMMER wieder in so langjährigen Partnerschaften? Ich will kein gottverdammtes Abgespaltensein von der Person, die ich wirklich mal geliebt habe. Warum steuert man da nicht zur rechten Zeit dagegen? Was wäre denn die rechte Zeit? Tja. Sie beide haben sich doch auch irgendwann mal richtig geliebt, oder? Wann begann die Abspaltung? Ich seh das tagtäglich bei meinen Eltern, ganz ähnlich wie bei Ihnen oder auch P. Reichenbach geht das zu. Ich WILL das nicht. Das ist doch kein Leben. Wahrscheinlich IST das das Leben, und alles andere ist Wunschdenken. Mist. Bei jeder Gemeinheit, die zwischen meinen Eltern ausgetauscht wird, beiße ich die Zähne aufeinander und murmele Beschwörungsformeln à la Nein-nein-nein-ich-werde-der-Welt-zeigen-dass-es-auch-anders-geht. So viel zur elterlichen Vorbildsfunktion.
Ich weiß nicht, wie es wäre, hätte ich Kinder und somit einer elterliche Vorbildsfunktion. Es ist auch müßig, solche Hypothesen aufstellen zu wollen. Auch sie verlören sich in ein Wunschdenken. Ich denke, hier sprechen zwei verschiedene Generationen. Ich befinde mich an einem Punkt, an dem der Körper nicht mehr jederzeit halten kann, was ein Wunsch verspricht. Meine Frau ist in einem Alter, in dem die Menstruationen ausbleiben. Und dann noch all die Schwierigkeiten, beides zusammenzubringen: das Trockene und das nicht mehr allzu lang Andauernde. Es ist fast schon biologisch. Wenn dann noch hinzukommt, daß die einstige Liebe (einstig? Ich glaube es nicht so unbedingt.) gerade da ihren Anfang nahm, wo Grenzen überschritten wurden, die im Körperlichen, im Sexuellen scheinbar abgesteckt waren, dann wird solch ein Desaster umso eklatanter. Dann beginnt man, auf Rollen zu pochen, und man beginnt, diese Rollen abzulehnen. Und man fragt sich, wer bin Ich eigentlich?
So sehr verschieden… …sind Ihre und meine Generation nicht, das täuscht, lieber Herr Lampe. Wer seine Eltern tagtäglich sieht, ist sicher ein Teenager, dachten Sie. Aber es gibt auch noch Dreigenerationenhäuser. Meine Eltern sind zwar deutlich älter als Sie und Ihre Frau, aber als sie so alt waren wie Sie beide, war’s auch nicht viel besser, als es jetzt zwischen ihnen ist. Die schönen Augenblicke, die es jetzt gibt, sind solche mit lachenden, über den Boden kugelnden Enkelkindern.
„Das Trockene und das nicht mehr allzu lang Andauernde“. Früher starben die meisten Menschen bereits, bevor dies eintrat. Oder es starb zumindest einer der beiden Partner, sodass nichts mehr „zusammengebracht“ werden musste. Heute – jedenfalls in Ländern mit bester medizinischer Versorgung – markiert dieser Punkt immer häufiger erst die Halbzeit des Lebens, für beide Partner. Wie kann man es schaffen, „das Biologische“ in etwas anderes zu überführen, will man nicht Jahrzehnte in Trauer darüber verbringen, dass „der Körper nicht mehr jederzeit halten kann, was ein Wunsch verspricht“? Entweder man versteht sich, oder man versteht sich nicht, sagten Sie, glaube ich, mal. Aber Sie beide haben sich doch auch mal „verstanden“, also das scheint nicht ausreichend zu sein.
Nein, a., das Problem ist n i c h t neu. Und gehört n i c h t ins Umfeld besserer medizinischer Versorgung.
Was spricht die tiefe Mitternacht?
„Ich schlief, ich schlief -,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh -,
Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit -,
– will tiefe, tiefe Ewigkeit!“
Nietzsche, Alle Lust will Ewigkeit.
Ich weiß, dass das alles… …nicht neu ist. Ich sagte ja auch nur, die „meisten“ Menschen starben zu einem Zeitpunkt, zu dem heute „immer häufiger“ erst die zweite Lebenshälfte beginnt. In einer TV-Dokumenation letztens wurde ein afrikanisches Dorf gezeigt, in dem die Großmütter alle schwatzend und lachend beeinander saßen, ihre Enkelkinder auf dem Arm, dem Schoß oder zu ihren Füßen, je nach Alter. Die Eltern dieser Babys gingen derweil der Feldarbeit oder anderen Betätigungen nach. Es wurde gesagt, dass man hier beobachten könne, warum Frauen viel früher unfruchtbar werden als Männer: Sie erhöhen durch ihren Betreuungseinsatz die Überlebenschancen der Enkel, ohne gleichzeitig befürchten zu müssen, ihren eigenen Körper durch erneute Schwangerschaften, Geburten etc zu schwächen. Die jüngere Generation wiederum ist besser in der Lage, Nahrung für alle Familienmitglieder zu besorgen.
Der Eindruck entstand beim Lesen, liebe a. (denn das Femininum scheint mir angebracht (hoffentlich irre hier nicht)), insofern bitte ich um Nachsicht. Wohl auch deshalb, weil ich keine Eltern mehr habe (definitiv seit nunmehr 20 Jahren). Da verzerren sich die Blickwinkel, und ich bringe dann andere Lebenssituationen mit der meinen durcheinander. Indes muß ich ANH (danke!) recht geben: die Medizin hat damit nichts zu tun. Sie kann lediglich dafür sorgen, Erektionen aufrechtzuerhalten. Sie kann Salben liefern. Aber sie löst nicht das Problem. Ich wehre mich nach wie vor gegen diese Abhilfen, die nur darauf hinaus laufen, die Leistungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. (Wie sagte neuliche meine Frau, als es zu einem intimen tete-a-tete kam, und ihre Bemerkung, doch die Gardinen zuzuziehen, alles zunichte machte, und ich vergrämt mich entfernte: „Ja, meinst du, ich mache auf Kommando meine Beine breit?“ – Entschuldigung, es klingt heftig, aber solche Bemerkungen fallen nun einmal, wenn ich hier schon gerade das Thema des 50jährigen anschlage, der nicht mehr so kann, wie er wollte: Nehmen Sie es als – nicht als „Bekenntnisse eines Opiumessers“ oder sonstwelcher Geständnisse -, sondern als eine Realität). Ich wünsche nur eins: Eine tatsächliche (physische) Trennung, damit die Seele sich doch noch speisen kann. Denn alle Theorie wird im Alltag von den Aasfliegen unbedachter Worte immer wieder plötzlich zunichte gemacht. Mein Tagebuch will das beschreiben. Ich habe keine Rezepte. Und alle gut gemeinten Worte hierzu reflektieren nur das, was sein könnte. Nur lebt niemand im Konjunktiv. Auch wenn er in der Lage ist, sich Möglichkeiten vorzustellen. Aber das ist eine Aufgabe der Kunst, der das Leben als Humus dient, aber nicht umgekehrt.
Stille Post Eine wundersame Bedeutungsverschiebung hat jetzt das Thema „Medizinischer Fortschritt“ erlebt. Ich meinte bei meiner ersten Erwähnung damit lediglich, dass früher bzw. woanders viele Menschen bereits starben/sterben, bevor sie ein Nachlassen ihrer Potenz und alldessen überhaupt (hätten) erfahren können. Also medizinischer Fortschritt ganz allgemein gedacht, in seiner Funktion als lebensverlängerndes Maßnahmenbündel. Nicht aber als Potenzmittel.
„Denn alle Theorie wird im Alltag von den Aasfliegen unbedachter Worte immer wieder plötzlich zunichte gemacht. Mein Tagebuch will das beschreiben.“ Das tun Sie sehr eindrucksvoll. Wie auch Ihr Kollege P. Reichenbach. Ich bin immer völlig fertig, wenn beim Lesen wieder diese Aasfliegen zwischen den Zeilen emporsteigen. Wenn einem schon fürs Lesen das Fell viel zu dünn ist, wie soll man dann erst den Alltag meistern? Ja, eine Sie bin ich, richtig getippt. (Wahrscheinlich wegen der vielen Großbuchstaben in meinem Beitrag weiter oben; wie früher die Tennisbälle als i-Punkte, das machten auch nur Mädchen.)