17.20
Wenn ich könnte, ich würde nur irgendwelche Kurvendiagramme wiedergeben, die die innere Unruhe mißt. Eine Art Seismograph mit Kurven, die sich vor dem D-Day immer mehr aufstauen. Dazu gehört auch der gestrige Tag, an dem an Arbeit nicht viel zu denken war. Verabredung um 11 vor der Kirche S. Francesco in Amelia, und ich war froh, dort viele alte Bekannte aus Rom wiederzutreffen. Mit dem einen nunmehr 20jährigen Neffen stand ich an der hintersten Wand in der Kirche, ab und zu sahen wir uns an und grinsten uns eins hinsichtlich der Kommunionszeremonie weit vorn. Alle Kinder sagten irgendwann einen an den lieben Gott gerichteten Wunsch. Ein Kind sollte den lieben Gott bitten, ihnen zu helfen, gehorsam zu sein. Es war das einzige Kind, das gleich nach dem ersten Wort stockte, und das dann wie gegen seinen Willen erneut Anlauf zu dieser „Bitte“ nehmen mußte. Wie gut ich dieses Stocken verstanden habe. Einer meiner Zwillingsneffen vergaß fast die Schlußformel: „Laßt uns beten“. Irgendwann nahm der große Neffe meinen eigenen Drang vorweg, nach draußen zu gehen. Da noch ein paar der römischen Bekannten dazugehen, beschloß man, durch die engen Gassen zum Dom hinaufzugehen, weil sie dort noch nicht gewesen waren. Eine Gelegenheit zu einem unverbindlichen Kommunizieren, wie der ganze Tag überhaupt, der gegen halb fünf nach einer Vorspeise, zwei Nudelgängen, einem Hauptgang, Erdbeeren und Torte endete. Vielleicht ist ja die Einrichtung des Rauchverbots in den Restaurants doch zu loben, so fand ich immer wieder einen Vorwand, mich vom allgemeinen Überdiesunddasreden zu entfernen und draußen den Kindern beim Tischfußball zuzusehen, um dann doch wieder drinnen zu sitzen. Eine weitere Abnabelungsstrategie war das Fotografieren. Als ich dann endlich wieder hier saß, war kein Darüberreden im TB mehr möglich. Es wäre gewesen wie eine Fortsetzung des Tages, ein unverbindliches Nachschreiben. Stattdessen kam Nervosität auf wegen der Anschaffungen. Heute bin ich wieder ruhiger, weil ich mir wieder einmal sagen mußte, um was es im Grunde geht. Jedenfalls nicht darum: Das gemachte Nest zu verlassen, um mich in ein gemachtes Nest zu setzen. Oberbekleidung kann man notfalls auch in eine Wäscherei geben, anderes per Hand waschen. Unbegründete Ängste, die ich mir da einrede. Daß mir plötzlich etwas fehlen könnte. Das fehlte noch. Das muß dieser nichts dem Zufall überlassende Charakter sein, der der Familie meiner Frau eigen ist. Und fast muß ich mich dazu zwingen, zu improvisieren, was sich nicht gleich lösen läßt. Das wichtigste ist ja gelöst. Und das mit den sich aufstauenden Kurven will meinetwegen dahin, was man ein Erdbeben, einen Vulkanausbruch und einen Orgasmus nennen mag. Also mit dem Schicksal koitieren.
Mit einem Orgasmus ins neue Nest … was für ein Vergleich! hihi
Ja, so, wie Sie hier über Ihre Ängste reflektieren, ginge es mir an ähnlicher Stelle wohl auch. Die Angst, improvisieren zu müssen., wandeln Sie in WOLLEN um. Das ist genau der richtige Weg, denke ich.
Außerdem geht alles problemlos, wenn man in der Zivilisation lebt und ein Einkommen bezieht. Das stellt man während des Campings ja auch fest: man braucht von allem nur eine einzige, eine sparsame Variante. Wasser und Strom reichen für das Überleben mit Minimalansprüchen.
Nach dem 6 wöchigen Camping unter freiem Himmel in Norwegen wurde uns klar, dass man auch ohne den ganzen Ballast vogelfrei und unbeschwert leben kann. Die gesammelte Geschichte erweist sich als stummer Klotz am Bein, wenn man genauer hinsieht… und ich als Sammler verdränge das erfolgreich… ach ja, man sollte wieder einmal solch einen Urlaub machen können. Werte verschieben lernen.