B.L.’s 13.6. – NNiSAL

19.37
Die Versuchung, das Früher herauszukramen, ist immer sehr groß und lenkt einfach nur vom Jetzt ab und vom Verstehen dieses Jetzt. Dasselbe gilt für die Zukunft, wo jedoch schon eher eine Rückprojektion ins Jetzt möglich ist, das sie sich das Jetzt verbessernd oder akzentuierend (im Guten wie im Bösen) ausmalt. Also bleibt es hier bei meinem Schreibtisch, bei der Arbeit, bei der Lektüre. Nur kurz verließ ich das Haus, um zur Neffenmutter zu fahren (die einen Brief hatte, der bei meiner alten Adresse angekommen war, und den sie ihr am Sonntag gegeben hatte: nichts Wichtiges). Eigentlich hätte ich auch verschieben können, aber ich hatte Müll wegzubringen und Zigaretten zu kaufen, die Tagesarbeit war getan. (Ein Mädchen ruft draußen lauthals und mehrmals hintereinander: „Italia“. Möglich, daß sie ihrem Vater imponieren will, den höchstwahrscheinlich „Italia“ in sportlicher und nicht in patriotischer Hinsicht imponiert). — Da ich außer dem Jean Paul auch Konrad Bayers „Sämtliche Werke“ am Wickel habe (ein größeres Kontrastprogramm läßt sich nicht denken) habe ich beim Lesen darin immer wieder mit Gewalt zu tun, ständig wird zertreten, abgehackt, erschossen mit einer Gewalt, die ein Nur-So-Ismus ist. Auch bei Litbloggern [LINK], schreibenden und nicht schreibenden einschließlich ANH, hatte ich ein Problem damit. Ich schaudere sehr wohl sehr wohlig (?) beim Lesen. Mittlerweile glaube ich, dahinter stecke nicht so sehr die Gewalt als solche, sondern das Darstellen eines Nackten und dem Nichtsein implizierenden Sein Ausgelieferten Lebens (kurz, das NNiSAL). Und ich sollte es mir einmal zur Aufgabe machen, so wie ich neulich ein pornographisches Gedicht geschrieben habe, auch mal zu schreiben, wie das Ich (nicht ich) jemanden umbringt und foltert und quält oder dasselbe in Grün, aber im Passiv. Ganz einfach, um mich diesem NNiSAL gedanklich auszuliefern. ’türlich diese Zeile bei Heym!: „Bist du endlich tot?“ Aber auch: „Ich töte dich millionenfach, ich töte dich trillionenfach“: Nina Hagen. Wahrscheinlich muß ich das erst in einem Off-Text probieren.

3 thoughts on “B.L.’s 13.6. – NNiSAL

  1. @ NNiSAL. Lieber B.L., Ihre Probleme mit der Darstellung von Gewalt in meinen Büchern, namentlich ANDERSWELT, in allen Ehren: aber Gewalt ist d a s Kennzeichen des vergangenen Jahrhunderts gewesen, ob im Ausmaß, ob in der sadistischen und nicht rücknehmbaren Prägung. Eine Literatur, die davon absieht, ist eine unrealistische, möge sie sich „realistisch“ nennen wie immer. THETIS etwa entstand zeitgleich mit dem Völkergemetzel auf dem Balkan; für ARGO sieht es kaum anders aus nach 9/11, Afghanistan, Irak, dem Sudan – wo man auch hinsieht, wird „zertreten, abgehackt, erschossen mit einer Gewalt, die ein Nur-So-Ismus ist“ – und wir, die es mittragen, merken das nur nicht, weil wir auf einer dünnen Schicht zivilisierten Umgangs leben (die wir mit Entfremdung und Uneigentlichkeit bezahlen) und das vor allem auf der Seite der schärfsten Gewaltanwendung tun: geschichtlich und gegenwärtig – nämlich auf der Seite, noch, der Sieger. Die Erfahrung der Gewalt ist für uns, wie die Japaner sagen, „Westeners“ allerdings eine vermittelte, aber auch das so, daß es nur so ein Nur-So-Ismus ist; kein wirklich kassenträchtiger Spielfilm, der nicht ganz direkt auf der Gewaltausübung fußte. Das hat sein Recht, seit Jahrtausenden: auf der barbarischsten Gewalt ist die gesamte klassische Dichtung positioniert; der „helle“ Hellenismus ist blutig; um von Rom zu schweigen; um vom Code Napoleon zu schweigen – unserem bis heute normativ-tiefsten Rechtsbezug. Und die gegenwärtige Weltpolizei steht auf dem Fundament der Ausrottung eines ganzen Volkes, die bisweilen sogar sportlichen Lustbarkeitscharacter angenommen hatte. Seinen Resten wurden meines Wissens bis heute keine Reparationen gezahlt, und es hat auch nie einen Weltgerichts-Prozess darüber gegeben.
    Es ist möglich, es ist wahrscheinlich, daß Gewalt e i n e der Grundkonditionen von Welt ist.

    1. Das ist mir alles klar. Die Dinge mit der Gewalt bei Ihnen oder anderen (es spielt keine Rolle: Konrad Bayer ist in manchen Texten noch brachialer) liegen mittlerweile doch etwas anders. Im Unterschied zu vor zwei (?) Jahren, als ich dieses Thema speziell auf Sie bezogen kritisch ansprach (es ging um den Nullgrund von Argo), hat sich meine Haltung gegenüber solchen Texten geändert. Sagen wir: ich lasse sie für mich zu, stehe als Zuschauer vor diesen Texten. Die Frage, die ich aufgeworfen habe, war mehr an meine Adresse gerichtet: Wie würdest Du, B.L., beschreiben, wie jemand getötet wird? Kann ich das? Wie läßt sich das mit dem vereinbaren, der als Mörder ein Ich vertritt. Somit eine Einladung an mich, mich als Mörder zu versuchen: in Worten. Die Aufgabe ist nicht leicht. Und entfernt sich auch von den anfänglichen Erörterungen über meine Probleme mit Beschreibungen von Gewalt. Einfacher wäre es, sich selbst um die Ecke zu bringen: in Worten. Für mich. Aber hier gehe ich schon in gewisse psychologische Winkel, die ich weder ausleuchten mag noch auszuleuchten vermag.

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