20.39
Unverhoffte Rührung heute abend. Vor mehr als einer Woche hatte die Mutter der Neffen Besuch von einer Freundin aus Rom, die ich auch seit meiner römischen Zeit kenne. Schnell ergab sich da eine Verabredung zum Mittagessen. Die Mutter dieser Freundin sei auch da. Diese aber wurde dann das Ereignis dieser „Mittagspause“. Als ich ankam, kam sie – die 30 Jahre ältere (also über 80) – tappend und schwerfällig aus dem Schlafzimmer. Man denkt da immer gleich an „alte Leute“ mit allem negativen Drum und Dran. Ich stellte mich erstmal ans Küchenfenster, um eine zu rauchen. Da stand sie mir dann gegenüber und sagte, sie würde nichts sehen. Denn ich stand mit dem Rücken zum Fenster. Sie wollte mich anschauen. Also drehte ich mich mit der Vorderseite zum Fenster und ließ Platz für sie, damit sie mich anschauen könne. Und fing gleich mit einer Geschichte an zum Thema „blaue Augen“, die ich nun mal habe, wenngleich ich nicht blond bin, wofür ich aber dankbar bin. Sie versetzte mich also mit ihrem Erzählen ans Ende des Zweiten Weltkriegs, irgendwo am Rande von Rom. Sie sei unvorsichtig gewesen, aber hatte dennoch Wäsche, die sie hatte waschen müssen in einem nahen Wasserlauf. 19 sei sie damals gewesen. Und als sie da hinkam, da habe sie vier schwarze Stiefel gesehen. Zunächst. Und im Aufblicken zwei deutsche Soldaten mit blauen Augen. Sie hätte die Wäsche dann nicht mehr gewaschen, sei gleich nach Hause geeilt. Dann hätte die Bombardierung begonnen, und man hätte nirgendwo hinkönnen. Zu einem gewissen Zeitpunkt hätte es an der Tür geklopft. Es seien die beiden Soldaten gewesen. Aber die hätte sie nicht reingelassen. Da wäre zuviel Angst gewesen damals. Irgendwann hätten sie nachgelassen. Und am nächsten Morgen hätte sie ein Paket mit Sachen zum Essen vor der Tür gefunden. Schwarzes Brot, dazu eine mißbilligende Miene von ihr: „Aber damals gab es nicht viel zu essen“. Sie stammt aus der Campania: Amalfi-Küste. Jahre verlebt in Neapel. An einer Stelle fragte sie mich, wie ich schon in Italien sei. Ich sagte: „Seit 22 Jahren“. Und denke immer, daß sei viel. Sie indes entgegnete, das sei wenig! Sie lebe schon seit mehr als 50 Jahren in Rom. Diese Antwort überraschte mich völlig. Und verstand dann das Nichtzuhausesein. Denn all ihr Reden war verflochten mit neapolitanischen Ausdrucksweisen, ihr Wesen selbst das Herzlich-Schmerzlich-Aufgeschlossene der Leute aus Kampanien. Alles „anema e core“: Seele und Herz. Gedichte. Wir kamen auf Gedichte. Sie wird sicher vorher gehört haben, ich schriebe Gedichte. Und sie selbst habe viele viele Gedichte geschrieben. Hätte gar einen Preis bekommen, irgendwo, ihn aber nicht abholen können. Und dachte, nun zeig’ ich ihr meine. Wir gingen also an den PC, und ließ sie meine italienischen Blog-Gedichte lesen. Vorher aber schrieb sie mir aus dem Gedächtnis eines ihrer Gedichte auf Papier. Ich glaube, ein bißchen freuten wir uns beide, den beiden anderen ihre Ignoranz in Sachen Schreiben demonstrieren zu können. Denn wir verstanden uns, was das Schreiben betrifft. Also unsere kleine Rache am Alltag, der uns das nicht gönnt bzw. gönnte. Heute fand ich einen Kommentar von ihr in meinem italienischen Blog, und er ist genauso unterzeichnet, wie ich sie in dem italienischen Gedicht nannte, daß ich ihr gleich nach der Begegnung gewidmet hatte: Anna la campana. Man liest bei : [LINK]. Ein Kommentar so richtig von Herzen zu dem Gedicht über das kleine Mädchen im Kinderwagen, daß mich gestern mit großen Augen anschaute, und worüber zunächst auf Deutsch [LINK], dann im Nachempfinden auf Italienisch schrieb. Und wenn da nun steht: „imparerai a pregare con me“, dann stört mich das nicht. Ich weiß schon, wie ich bete, zuweilen, und weiß, was sie meint. Und weiß, wer da spricht.