7.24 Uhr:
[Auf dem Hegerfeld.]
Nichts ist trauriger, nichts greift mehr ans Herz, als ein krankes Kind – wenn es eigentlich nicht weiß, was das ist, das einen so herausnimmt und es einen so schlecht sein läßt, so ganz dünn in der Haut; und wie klein das Gesichtchen dann wird, wie so seltsam Vorwurf…
Das bestimmte gestern den Tag; morgens arbeitete ich ein wenig an der Elften, heute morgen schon nicht mehr; nachts um drei und um fünf den Bub abgetupft von Kopf bis Fuß; das Fieber war heut morgen dann auch weg; aber diese Art Vorwurf ist noch da und ist fast noch, möcht ich sagen, ‚bewußter’… „Ich möchte so gerne nicht mehr krank sein.“
Was er hat, ist nicht recht zu sagen; wahrscheinlich war’s vortags zuviel direkte Sonne, vielleicht trug er auch schon einen Infekt mit sich rum, den die Sonne dann hat aufblühen lassen. „Gestern war der Tag des Kampfes deiner inneren Soldaten“, hab ich ihm eben gesagt, „heute ist es der Tag, an dem sie sich erholen und ihre Wunden versorgen müssen, die ihnen der Feind, der jetzt vertrieben ist, zugefügt hat. Auch die, wie über Nacht du, müssen ja jetzt heilen.“
In der Tat merkt man bei Krankheiten immer, und erst recht bei der Krankheit von Kindern, daß ein wesentliches Element von Leben eben nicht Harmonie, sondern der Kampf ist. Und wohl dem, der zu kämpfen versteht. Wer zu leben lieben will, m u ß darum zu kämpfen lieben wollen.9.47 Uhr:
Ich sitze auf der Balkonterrasse, und es regnet junge Hunde. Bisweilen springt ein Tropfen von dem Gerüst, vom dem die Hausfront derzeit korsettiert ist, zu meinem Platz herüber, und wird auf dem Bildschirm in feinen Strähnen flach. Dann tupf ich das Naß mit dem Zeigefinger weg. Der Junge ist nebenan auf der Couch des Wohnzimmers tief in einen Heilschlaf gefallen, und ich habe an >>>> dem gebastelt, mit einem, finde ich, schönen Ergebnis; aber das, was ich eigentlich ausdrücken wollte, ist nicht darin, hat sich meinem Verswillen entzogen. So greife ich wieder zu Jüngers Heliopolis – und bemerke, welch einem Vorurteil auch ich selbst über bald Jahrzehnte aufgesessen bin, welch unrechtem Urteil, das jemandem, den man nie las, aufgrund des Umstands, das er deutlich konservativ, ja elitär gesonnen ist, etwas Schlimmes zugleich mit nachsagt… und spüre ein weiteres Unrecht, das ich nun aber genieße, das mir guttut: nämlich ausgerechnet von diesem Schriftsteller mit einer ganz-großen Dichtung belohnt zu werden, anstelle daß sie Auge um Zahn walten läßt und mich von sich ausschließt, der ich so lange im Anti-Jünger-Chor voreingenommen mitgegröhlt habe. Muß man über 50 werden, um zu verstehen, daß politische Differenz, und sei sie noch so entschieden, nicht mit moralischer Differenz gleich bedeutet? ja daß sich in der politischen Differenz sogar die moralische Übereinstimmung ausdrücken kann? und daß genau das im Staunen über ein Buch (ein Bild, eine Musik) evident wird? Ich bin seit langem, wirklich seit langem nicht mehr von einem Roman derart eingenommen worden wie jetzt von Heliopolis.
Bei Jünger muss man älter sein, um Jünger zu werden. Heliopolis, heute hol ich’s aus dem Schrank, ist ein tiefes Buch. Die Kältetendenz Jüngerscher Prosa (Einschub von mir), um mit Mandelstam zu sprechen, rührt vom Eindringen der Physik in die moralische Idee.
Bei solchen Graden, schreibt Jünger in seinen „Strahlungen“, verlieren auch das Fleisch und die erotische Berührung ihr Lüster, ihr physikalisches Verhältnis tritt hervor.
Die Kältetendenz hat dieselbe Art Wärme, die ich bei Loyola merkte und bei, das verwundert sicher die meisten – aber aus einer Unkenntnis, die mit der >>>> Nivellierung des Bildungsgrades einhergeht – Saint-Exupéry, dessen Kleinen Prinzen man ganz gewiß vernichten würde, hätte man zuvor Saint-Exupérys riesiges Citadelle gelesen; ich hingegen fand den Kleinen Prinzen alleine deshalb erträglich, weil es die Citadelle dazugab.