19.57
Mein einer Neffe aus Brescia wird wohl nicht mehr an die Unsterblichkeit der Jugend glauben, sobald er aus seinem künstlichen Koma herausgeholt wird. Er hatte in der letzten Nacht einen Autounfall. Das Zwerchfell entzwei, Magen und Leber mußten an ihren angestammten Platz zurückversetzt werden. Oberschenkel gebrochen. Intensivstation. Ich weiß nicht genau, wie alt er ist, aber mehr als 21 werden’s nicht sein. Blutprobe: THC-positiv. Er soll damit auch gedealt haben. Einer, der sich ausgeklinkt hat. Vor Jahren sah ich ihn das letzte Mal bei einem Besuch bei uns. Sehr aufgesetzt und fast schon nonchalant. Im Gegensatz zu seinem Zwillingsbruder (auch dort Zwillinge) war ihm allerdings mein Hund nicht grün. Er wich ihm aus, als machte er ihm Angst. Was mir merkwürdig vorkam, denn sonst ist das nicht der Fall. Also muß etwas Unehrliches in ihm gesteckt haben. Die Geschichte ist allerdings auch kompliziert. Frühe Scheidung, dann früher Tod des Vaters. Erbschaft in Aussicht. Und auf diese Lorbeeren die Zukunft aufbauen. Von der Mutter das bequeme Leben fordern. Ein Sich-Gehen-Lassen. Ein wenig erkenne ich mich wieder. Denn der Gedanke verläßt mich nach wie vor nicht (sofern er denn manchmal auftaucht), daß ich in einer größeren Stadt mit Drogenmarkt sicher einen anderen Weg genommen hätte, als den, den mir dann das Dorf nolens volens bescherte. Jedenfalls gab es eine Phase, da hätte ich alles ausprobiert. Es blieb glücklicherweise beim Haschisch. (Auch wenn damals, als ich wie der letzte Freak herumlief, sich im Dorf das Gerücht breitmachte, ich sei drogensüchtig). Später, außerhalb des Dorfes, rettete mich dann die Transzendentale Meditation zunächst, und dann der Kommunistische Bund Westdeutschlands. Dem bereitete dann Arno Schmidt ein Ende. Und da blieb ich ein langes langes Weilchen hängen. — Ich wünsch’ dem Neffen, daß er durchkommt, und daß er merkt, daß das Leben nicht nur bedeutet, seine Positionen unter „Freunden“ zu behaupten.
„… unter einem blühenden Apfelbaum im Garten auf einem Kissen umarmt im Schoß der Großmutter ein Wiegen: „Weißt du, wenn du einem Menschen wirklich etwas schenken willst, dann verschenk ein Gefühl“.
Wohnt Ihr Neffe weit von Ihnen entfernt?
Manchmal kann nur die notwendige Not es wenden.