In den Rückwärtsbewegungen verharrend: Heute Nachmittag der vierte Gang, diesmal durchs Dorf. Erst zum Friedhof. Am Zaun des gegenüber stehenden Hauses aber zunächst ein ehemaliger Arbeitskollege meines Vaters: die Toten des verflossenen Jahres. Ein Halbsatz deutete an, daß er begriffen hatte, daß vielen dieser Fälle eine Lebensverweigerung vorausgegangen war, da es oft um nicht mal sechzigjährige ging. Und das übliche „seit wann“ und „wie lange“, die Fragen nach dem Befinden. Um die Ecke bog dann auch noch der ehemalige Nachbar, der mich nicht sogleich erkannte. Geradezu und frotzelnd wie er ist, kam zunächst ein „Man sollte dir mal eine Rasierklinge schenken.“ Nu jut. Dann aber mußte ich mir zum zweiten Mal seine Reise nach Italien anhören, die er vor etlichen Jahren mal mit einer Reisegruppe unternommen hatte. Gleichzeitig erzählte mir die Frau des ehemaligen Arbeitskollegen etwas über Krankenhäuser in Italien, denn eine Schwester von ihr hätte ein Haus in Sardinien. So finden die Themen an einem ihren Anstoß. Auf dem Friedhof konzentrierte ich mich auf das Grab der Mutter, mit der ich dieses Jahr meinen Frieden gemacht habe. Ich wollte mich schon zum gehen wenden, da hielt „es“ mich doch noch einen Moment zurück. Was genau es war, habe ich nicht verstanden. Nur eine Ahnung, die ich aber für mich behalte. So habe ich jetzt sogar ein kleines Geheimnis mit ihr. Auf der Dorfstraße dann zur Tante, die einzige aus der näheren Verwandtschaft im Dorf, die aus der vorigen Generation noch übriggeblieben ist. Ich wußte, es würde sie freuen. Darum. Natürlich mußte ich von mir erzählen bei Tee und selbstgemachtem Kuchen. Sie zeigte noch die Veränderungen, die der Hof in den letzten Jahren erfahren hatte: keine Schweine mehr, keine Kühe mehr, keine Hühner mehr. Nur Feldbau und gelegentliche Lohnarbeit. Was allerdings sie nicht mehr direkt, sondern meinen Cousin betrifft. Das Holz aus dem Wald dient der entsprechend umgestellten Heizung: eine Art Selbstversorgung. Sie selbst hatte sich gerade einen Film mit Heinz Rühmann angeschaut. Aus dem Radio dann liefen uralte deutsche Schlager. Über dem Sofa seit eh und je die Waldlandschaft mit Wasserlauf. Daneben die Hochzeitsfotos der Kinder. Auf dem Schrank die Bilder der Enkel, einige schon mit den jeweiligen Bräuten. So mag wohl Alter im Werden sein Vergehen vergessen. Ein Art Rückwärts-Evolution: Revolution, ein Zurückwälzen, eine Umdrehung, ein Himmelskörper, der um einen anderen sich bewegt. Perpetuum mobile. Und komme mir selbst mit diesem Rückwärtsschreiben so vor. Auch an Schwitters und seinem „rückwärts von nah“ liegt’s und der, die’s zuerst gesehen. – Was ich aber registriere: Ich empfinde das Dorf nicht mehr als Schmerzen-Reservoir. Als Ort, der mein Unbehagen durch ein altes Unbehagen noch verstärkt. Das Unbehagen am Leben ist fort, und was nicht ist, kann nicht verstärkt werden. Was wiederum kein Vergessen ist. – Denn wenn mich jemand fragt, wie’s mir gehe, dann antworte ich kurz aber entschieden, weil wahr, mit „Gut!“.