5.25 Uhr:
[Am Terrarium.]
Seit drei Uhr nachts Baby-Bauchweh-Alarm; um halb fünf „Wach“-Ablösung, aber da ich heute früh bis etwa sieben Uhr hierbleibe, denn LH schläft ja noch einmal in der Arbeitswohnung, helf ich noch etwas weiter; das geht gar nicht anders, wenn z w e i Babies schreien (das jeweils andere wird immer mitgeweckt und schreit dann begreiflicherweise auch). Nur meinen Kaffee bereitet und für eine erste Zigarette auf die Schönhauser hinunter, die völlig vereist ist; schon gestern abend regnete es, als die Temperaturen auf Null Grad hinaufgingen, der Boden aber noch Frost hatte und alles im Nu spiegelglatt war. So ist es bis heute morgen geblieben. Ein wunderschönes Bild gab es vor einer dreiviertel Stunde dort unten:
Die Allee ist belebt, die Jugendlichen – vor allem Franzosen momentan, die fast gleich nebenan im Hostel übernachten – kehren aus den Clubs heim, scherzend, manche auch leicht aggressiv, wie ich dasteh mit meinem Beduinenschal und rauche… und hundert Meter entfernt hält ein Taxi; eine junge Dame verabschiedet sich von ihrem Freund, ihrem Geliebten, vielleicht jemandem, den sie gerade erst kennengelernt… sie steht bereits bei dem Taxi am Fahrbahnrand, er noch auf dem Bürgersteig; sie stellt sich kerzengerade hin, mit dem Rücken zur Fahrbahn, balancierend auf dem Eis, und er… er gleitet wie auf Schlittschuhen über das ganze Trottoir und über den schmalen Fahrradweg virtuos in ihre Arme. So stehen sie momentlang da, dann lösen sie sich auseinander, sie dreht sich um, beugt sich in die Taxitür, er wendet sich zur Seite und tappst vorsichtig über die Allee hinüber; das Taxi fährt ab. Schon Blaulicht in der nördlichen Ferne, das folgt, ein Krankenwagen, der mich passiert, das Taxi bereits außer Sicht, der junge Mann außer Sicht, ich stehe und rauche.
Gestern den Nachmittag über mit LH und >>>> parallalie in der Arbeitswohnung gesessen und den beiden erst die ganze AEOLIA, dann noch ein Stückchen ARGO vorgelesen. Ich spürte, wie sehr ich wieder an den Roman zurückwill. Eine Flasche Odenwälder Weins dazu geleert und viel viel geraucht. Vorher an meinen Musikprogrammen laboriert und für die Dritte Vorlesung Handskizzen gezeichnet und eingescannt und in den Vortrag eingefügt: Schemen der Erzählstrukturen in Regelspiralen:Wieder einmal merkte ich, wie sehr meine Erzählvorstellung den gedrehten DNS-Strängen ähnelt. An den Handzeichnungen läßt sich der Prozeß meines Romanschreibens ganz gut, wenn auch vereinfacht, zeigen.
Heute früh überarbeite ich die Dritte Vorlesung weiter; gegen sieben radle ich rüber, gegen elf wieder hierher zurück; dann werde ich den Tag über mit der Familie sein.
Guten Morgen.
7.23 Uhr:
Arbeitswohnung. Bach, Suiten für Cello Solo, Yo Yo Ma.]
LH geweckt, der noch in tiefem Schlaf in tiefer Dunkelheit befindlich. Und während ich heute morgen über die grafische Darstellung meiner Erzählstrukturen nachsann, fiel mir ein alter Aufsatz aus der Scientific American ein, in welchem von Projektionen vier- und n-dimensionaler Körper in den dreidimensionalen Raum erzählt worden ist und solche Projektionen auch abgebildet waren. Und mit einem Mal dann, auf der schliddernden Radfahrt hierher, wurde mir klar – das war wie eine Welle der Erkenntnis -, wie tief mich dieser irgendwann in den Achtzigern publizierte Text geprägt und wie weitgehend er offenbar meine poetische Imagination beeinflußt hat. Jetzt werde ich den Aufsatz aus den Hunderten Scientific-American-Heften heraussuchen müssen, die ich Göttinseidank nie weggeworfen, aber eben leider auch nicht nach Beiträgen archiviert habe. So daß nachher, wenn LH fort ist (er will gegen neun Uhr abreisen) eine ziemliche Sucherei beginnen wird.
Es hat solche Momente von evidenter Erinnerung nicht selten in meinem Leben gegeben: sowie ich anfange, über etwas intensiv nachzudenken, steigen sie auf. Man muß sie dann lassen. Das ist übrigens ein ausgesprochen g u t e s Gefühl. Es erdet (auch ein Begriff, der für mich enorm wichtig ist, wichtig für die gesamte Poetik, und wenn sie n o c h so kybernetisch daherkommt).