Freitag, der 1. Februar 2008.

5.26 Uhr:
[Am Terrarium. Bruckner, Fünfte (Kempe).]
Versöhnung heißt nicht Heilung, Mutter. – Ich spüre das seit Deinem Tod. Vor allem an meiner eigenen Haltung, mit diesem Tod umzugehen; sie ist fast emotionsfrei; wäre nicht die Beerdigung noch, er wäre wie nicht geschehen — schon „nicht eingetreten“ zu schreiben, wäre falsch.
Mich beschäftigt das. Versöhnung bedeutet, daß man miteinander einen Modus findet, einen freundschafltichen, ja liebevollen vielleicht, Modus aber eben d o c h nur. Ich trauere, Mutter, nicht um Dich, ich verfüge… und stelle dabei fest, wie ähnlich wir einander sind. So, fast ebenso hast Du nach dem Tod Deines Lieblingssohnes verfügt, hast die Rahmen ausgesucht und bestimmt und hingestellt, aber das Leben ging in aller Banalität und Härte dieses Satzes weiter; Du trugst gegen den Schmerz den Blick des Ewigen als Make up auf Dein Gesicht; so nun tue ich; man merkt gar keinen wirklichen Schmerz – nicht, wenn man ihn (dieses bisweilige und auch nur kurze Schluckenmüssen, die paar Tränen, die an Deinem Totenbett dann eben d o c h in die Augen traten) mit dem Schmerz Deiner zwei nahen Freundinnen vergleicht, vor allem mit dem der einen, die Deine Nachbarin und so voll tätiger Güte ist.
Mich beschäftigt daran, daß ich reagiere, wie Du immer reagiert hast – Abwehr von Emotion. Ich will gar nicht abwehren, ich suche sogar ein wenig nach ihr, aber finde sie nicht. Ich verhalte mich, seelisch, so, wie ich Dir lebenslang vorwarf, daß Du Dich uns Kindern gegenüber verhalten habest – in dieser prinzipiellen Distanz, der eine Skepsis zugrundegelegen haben mag, ich weiß es nicht, der eine Verwundung zugrundegelegen haben mag, ich weiß es nicht; aber sie hat verletzt und zwischen uns zu einem fast lebenslangen Kampf geführt, den Du jetzt, nach unserer Versöhnung und Deinem Tod, zu gewinnen scheinst, indem ich – werde wie Du warst. „Die Menschen sehnen sich alle so nach Berührung. Und ich kann mich nicht mehr wehren.“ Diese beiden letzten Sätze, die Du zu mir gesprochen hast – ich werde sie wirklich nicht mehr los. Sie wirken. Sie wirken so sehr, daß ich mein Tagebuch wieder aufnehme – für diesen „Fall“ -, um ihnen nach-, um ihnen vorauszuschreiben. Ich spiele, Mutter, mit dem Gedanken, das Angebot meines ehemaligen Analytikers anzunehmen und mich ein paar Stunden vielleicht wieder auf die Couch zu legen, um die Kühle, die ich spüre, wieder anzuwärmen. Aber zu schreiben ist wohl eher m e i n e Art von Seelenarbeit, ist es seit Jahrzehnten: die Prozesse ansehen und mich ihnen anlegen und mit ihren Bewegungen bewußt mitzuschwingen – und daraus Geschichten zu erzählen, die selbstverständlich immer meine Geschichte irgendwo mitsind.
Wir werden uns noch einmal begegnen, an dem Grab, in das man Deine Urne anonym tun wird. Verbrannt wurdest Du schon – auch das etwas, worüber ich nachdenke. Weil es mir so fremd ist. Weil ich, für mich, es vorgezogen hätte und weiter vorziehe, als Leib in die Erde zurückzugehen, um mich aufzulösen als Rohstoff und als Rohstoff in die Wurzeln einzugehen. Auch das ist Kitsch, ich weiß; aber ich mag seine Symbolik, die eine andere ist als die von irgend einer Auferstehung oder davon, daß man mit einer Verbrennung den Körper als Träger der Seele der Weltlichkeit entzieht, um, sagen wir, den Geist zu befreien. An den ich, als etwas nicht-Körperliches, ja nicht glaube.

Mutter, Dein Tod hat meine Arbeitsprozesse durcheinander- und, wenn ich mir das so anschaue, eigentlich zum Erliegen gebracht. Ich lenke mich ab, fasele technisch herum, zerfasere mich, bringe Aufgaben nicht zuende und und und… u n d ich versuche zu fühlen, ob daran wirklich etwas i s t: daß man nach dem Sterben beider Elternteile erst erwachsen, weil dann wirklich genealogisch allein ist, weil dann niemand mehr da ist, von dem einem zumindest die Grundsicherheit verspricht, im Fall aller Fälle stehe einem noch immer wer zur Seite. Aber ich kann diese Ahnung nicht fangen. Zur Seite standen immer die Freunde, ja manchmal sogar ganz Fremde. Aber die Eltern niemals. Und doch ist an dem Gefühl etwas dran. Ich weiß noch nicht, wie ich’s erfasse.

(Der „Fall aller Fälle“ wäre n i c h t – der Tod?)