Wuchtig stand er in der Tür, wuchtig vor Drohung, nicht etwa wuchtig von Körper: Herr Gustav Seiltanz, Gerichtsvollzieher. „Ich habe hier…“, sagte er und sah zu Boden. Es gibt Leute, denen ihr Beruf lebenslang peinlich bleibt, so daß er ihrer Seele nichts anhaben kann. Bei allem Elend, das sie mitverursachen wollen, sonst wären sie nicht Gerichtsvollzieher g e w o r d e n, sind sie ‚rein’ geblieben – so geradezu unschuldig sind sie, daß man sie in den Arm nehmen möchte. Etwa Herrn Seiltanz, ich spürte es gleich. Auch daß ihn der Anblick derart vieler Bücher so quälte, daß er nicht einmal überschlagen konnte, was die Pfändung einer solchen Sammlung einbringen werde, tat mir sehr leid. Sie hätte viel zu wenig erbracht, wenn einer die Höhe meiner Außenstände bedenkt, die einzutreiben dieser schmalgelenkige Mensch geschickt war.
Noch aber scharrte er mit dem linke Fußn auf dem Abtreter; zweimal mußte ich ihn einzutreten bitten – solch eine staunenswerte, mich beschämende Dezenz legte der Mann an den Tag. „Entschuldigen Sie bitte die Unordnung“, sagte ich im Flur, durch den sich selbst Kleinwuchs nur zwängt, weil links das Regal für die Toiletteutensilien und die über Jahre angesammelten Packmittel den Durchgang behindert; und rechts vor allem fassen immer wieder aus dem horen-Regal vorstehene Streben jedem Fremdling ins Jackett, um ihm ein weiteres Vordringen zu verwehren. Herr Seiltanz wirkte davon richtiggehend angewidert; da er so klein war, war er sowas nicht gewöhnt. Ich entschuldigte mich vielmals. „Alles, Herr Seiltanz, wächst mir über den Kopf, ich kann rein gar nichts tun!“
Seufzend nahm er auf meinem Sofa Platz. Er zog ein Taschentuch hervor und tupfte sich die Stirn. Dann entnahm er seiner braunen Aktentasche die Unterlagen und breitete sie auf der halben Schranktür aus, die mir als Tischplatte dient. „So kann ein Mensch nicht leben, Herr Herbst“, sagte er und fing sogar ein wenig zu weinen an. „Ich habe hier einen Pfändungsauftrag…“ „Angenehm“, sagte ich und gab dem Pfändungsauftrag die Hand. „Wie konnten Sie denn, Herr Herbst, bei einer Bank Schulden machen? Wie ist es dazu denn gekommen, daß man einem wie Ihnen Kredit gab? Fünfzehntausend E u r o, so hören Sie doch!“ Er verzichtete deprimiert auf die Handbewegung, die einmal durch den vollgestellten Raum schwang. Eine der kniehohen Säulen, zu denen ich, da es anderswo keinen Platz mehr gibt, mir zugesandte Bücher auf dem Fußboden türme, geriet dadurch ins Kippeln, kippte auch, aber fing sich dergestalt ab, daß der Turm zur Raupe, die zuckte, wurde… den Kopf Herrn Seiltanzens linkem Fuße überaus nah. Sie hätte da gewiß auch hineingebissen, hätt ich ihr nicht in die Seite getreten, so daß sie in ihre etwa fünfundzwanzig Bücher auseinanderfiel. „Entschuldigen Sie“, sagte ich zerknirscht, „ich bin meiner Dinge nicht mehr Herr. Schauen Sie hier“ – ich hob einen Stoß ungeöffneter Briefe – „ich öffne die Post schon seit langem nicht mehr. Ich weiß ja, daß einer wie Sie kommen wird, so gegen einzwei Male proMonat, um mich über den Stand der Gläubiger auf dem laufenden zu halten.“ Er nickte. „Auf Sie ist Verlaß“, sagte ich, „ich danke Ihnen. Immerhin ist das nicht der einzige Kredit und nicht die einzige Bank. Aber ich weiß es gar nicht mehr genau. Da sind zum Beispiel die beiden Finanzämter noch, ist meine großartige Steuerberaterin, ist mein Freund und Anwalt, und die Telekom ist da, jaja, die Telekom… ich meine, die wollen wir doch a u c h nicht vergessen?“ „Nein“, sagte er, „das wäre nicht fair.“ „Mangelnde Fairness“, sagte ich, „ist das schlimmste.“ „Ja“, sagte er, „das ist das schlimmste. Aber wie gehen wir jetzt mit den Schulden um?“ Mit „wir“ meinte er mich, gewiß mich allein. „Wir suchen nach der sichersten Methode, Millionär zu werden“, sagte ich, also Wir. „Ah!“ rief er da aus. Nichts w e i t e r, nein, er sagte n i c h t s weiter, rief nur dieses „Ah!“ „Ah?“ fragte ich. Er wirkte aber zu ergriffen, als daß er hätte antworten können. „Herr Seiltanz“, fragte ich, „möchten Sie vielleicht einen Kaffee?“ Er hörte mich nicht. Deshalb ging ich pinkeln, ließ aber die Toilettentür zum Flürchen offen und wiederum dessen Tür, sowieso, zum Arbeitsraum. Tatsächlich schien Herrn Seiltanz mein Plätschern wieder zu sich zu bringen, denn nachdem ich gezogen hatte und zurückgekehrt war, füllte er gerade sein Formular aus. „Keine sonstigen Wertgegenstände?“ fragte er. „Wieso ‚sonstige’?“ fragte ich. „Sie haben recht“, sagte er, „das ist Unsinn hier im Formular.“ „Ich muß Millionär werden“, sagte ich. „B a l d“, sagte ich. „Davon“, sagte er, „gehe ich aus. Bis dahin sollten Sie aber eine Ratenzahlungsvereinbarung treffen.“ „Das i s t es ja“, sagte ich. Herr Seiltanz bekam diesen Ausdruck rechtspflegerischen Mitleids ins Gesicht, den ich sehr liebe. „Das ist bitte was?“ Er weinte schon wieder, aber nur leicht; bei Regen hätte man von einem Nieseln gesprochen. Ich riß zwei Blatt von der Rolle Küchenpapier, die bei mir für Gerichtsvollzieherbesuche immer bereitsteht, und reichte sie ihm. „Danke“, schniefte er, „Sie sind ein guter Mensch.“ Das rührte mich, weshalb ich auch mir Blätter abreißen mußte. Das wiederum ließ ihn jetzt ganz besonders schluchzen. „Was ist es ‚ja’?“ drückte er durch die zwei inneren Erschütterungen. „Daß ich schon so viele Ratenzahlungsvereinbarungen habe, daß sie ihrerseits Gegenstand eines monatlich abzutragenden Schuldengebirges sind.“ „Unter einer Million“, sagte er, „ich verstehe, kommen Sie aus dieser Situation nicht mehr heraus.“ „Insofern, ja“, bestätigte ich, „läuft mein Projekt ganz vorzüglich.“ Das ließ ihn sich ein weiteres Mal erschüttern. „Ihr Projekt?“ fragte er, und ich antwortete: „Mit Sicherheit Millionär zu werden.“ „Wie wundervoll!“ rief er. „Ich beginne zu begreifen!“ „Hier schauen Sie“, sagte ich, stand auf, schritt um den Schreibtisch herum und fing an, in dem Papierwust zu wühlen, mit dem er sich seit Monaten zugedeckt hatte. Er fror ja so tüchtig, weil mir das Geld für Kohle ausgegangen war. „Irgendwo hier muß es liegen… es ist sehr alt… aber ich nehme es seit Jahren immer wieder vor… Verstehen Sie? Ich brauche doch einen Beweis.“ „Aber ja, ich verstehe.“ Auch er war aufgestanden und um den Schreibtisch herumgekommen. Auch er wühlte jetzt mit. „Ich war fünfzehn“, erzählte ich, während wir Papiere aufnahmen, fallenließen oder zu Boden wischten. „Fünfzehn, jaja“, sagte er. „ich verstehe Sie gut.“ Und wühlte und wühlte. „Ich kann das Projekt“, sagte ich, „also beweisen.“ „Deswegen nur“, sagte er, „haben Sie Ihre Schulden.“ „Ja“, sagte ich, „ja.“ Wir hielten einen Moment lang inne, sahen uns, außerordentlich scheu, nicht an, aber atmeten gemeinsam. So nah wie Herrn Seiltanz war ich noch keinem Gerichtsvollzieher gekommen. „Es ist ein großes Projekt“, sagte er, indem er sich einen Ruck gab, „ich verstehe das, ich habe gleich gedacht, als ich Sie sah: das ist ein besonderer Mensch mit einer Vision. Wir müssen nur, Herr Herbst, verstehen Sie das bitte, irgendwie die Zeit überbrücken.“ „Man sieht mir doch an, Herr Seiltanz, daß ich Millionär werden werde?“ „Man sieht Ihnen das, Herr Herbst, mit Sicherheit an. Aber wenn Sie keine weiteren Raten zahlen können, dann brauche ich wenigstens dieses Papier. Wenn ich der Bank sowas vorlegen könnte, wäre gewiß wieder Zeit gewonnen.“ „1970“, sagte ich, „ich habe das Projekt 1970 skizziert.“ „Sie sind sehr vorausschauend“, sagte er. „Ich wußte“, erklärte ich, „daß man mir eines Tages nicht glauben würde, und zwar gerade dann nicht, heute nicht, Herr Seiltanz, wenn es sich fast schon erfüllte.“ „Ja“, rief er aus, „Sie sind derart nahe daran!“ „Also lassen Sie uns dieses Tagebuch suchen.“ „Tagebuch?“ „Ich habe es im Tagebuch notiert.“ „Das ist gut, das ist besser, Herr Herbst, ein Tagebuch wird die Bank noch eher überzeugen als ein Papier.“ „Da ist es!“ rief ich, denn wirklich war es mir unter die Finger geraten. „Nein!“ rief er. „Doch!“ rief ich. „Zeigen Sie!“ rief er. „Moment!“ rief ich. Ich durchflog die Seiten. Da stand immer wieder Ach Christine, wie liebe ich dich! Immer wieder, Hunderte Male. Aber dann… aber dann…. „Sehen Sie! Hier!“ rief ich. „Zeigen Sie!“ rief er. Ich gab ihm das Buch. Er legte das geöffnete Buch auf den Boden und kniete sich davor hin. Dann fuhr sein linke Zeigefinger die Zeilen, die er vorlas, entlang. „Wie werde ich“, las er vor, „mit Sicherheit Millionär.“ Es folgte dezidiert die Projektbeschreibung. „Das ist genial“, sagte Herr Seiltanz. „Das ist absolut genial, Herr Herbst. Da steht ja jeder P o s t e n drin, jede Bank, die Sie sich dafür zum Gläubiger machen mußten, und jeder Bekannte, der Ihnen später etwas vorgestreckt… Herr Herbst, stimmen all diese Daten?“ Mir blieb nichts, als vor lauter Selbstergriffenheit zu nicken. „Mit fünfzehn“, sagte ich. „Mit fünfzehn hab ich das alles schon gewußt und geplant.“ „Dann werden Sie es auch schaffen“, sagte er und erhob sich wieder. „Darf ich das bitte mitnehmen?“ „Aber bringen Sie es mir zurück. Ich brauche das… als meinen Halt.“ „Mein Lieber, mein Geliebter, wenn ich einmal so sagen darf!“ Er nahm, muß man sagen, mein Gesicht in den Arm und bedeckte es mit Küssen. „Sie haben mir Hoffnung gegeben, Sie ahnen gar nicht, wie sehr!“ Damit lief er zu seinem Formular und reichte es mir. „Wen
n Sie bitte hier unterschreiben wollen? Ah, Herr Herbst, wir werden uns wiedersehen, wiedersehen, gewiß!“ Und noch, als er sich durch das Flurchen zwängte und draußen im Treppenhaus noch rief er immer wieder: „Sie haben mir solch eine Hoffnung gemacht.“ Das hallte lange nach. Erst dann war Herr Seiltanz wirklich enteilt.
Ich werde Millionär.
[Für den SWR, Dez. 2005.]