„Da habe ich wieder gemerkt, was Musik ist.“ Mit dem Konzerthausorchester durch Spanien.

[Geschrieben für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.
Erschienen am 2. März 2008 in gekürzter Version.
Hier nun ungekürzt:]

Saturn Hansa, Haushaltsabteilung. Anruf übers Mobilchen: „Haben Sie Lust, unsere Spanientournee zu begleiten?“ fragte der Pressechef des Konzerthauses Berlin, mit dem ich in Kontakt gekommen war, als ich wegen der fulminanten Gluck-Inszenierung mit Lother Zagrosek, ihrem Dirigenten, hatte ein Gespräch führen wollen. Das zustandegekommen war, ziemlich lange dauerte und mit einer Verabredung zum Wein zuendeging. Das hatte sich das herumgesprochen. Zumal mich Za­grosek, nachdem er eine meiner Novellen gelesen, des Weines halber anrief, den dann private Gründe verschoben. So kam mir dieser Anruf zwischen lauter Toaster-Modellen, deren eines ich grad in der Hand hielt, gerade zurecht. Gleichsam fliegend sagte ich zu. Es werde schon interessieren, welche Widrigkeiten auf einer Tournee zu meistern seien, welche Niederlagen hinzunehmen, welche Erfolge zu befeiern. Dachte ich. Und stand im diesigsten Morgen fremd am Tegeler C-Gate herum.Denn komisch war da mein Grundgefühl schon; mitunter gab es seltsam fragende Blicke. Der LKW, der die großen Instrumente transportierte, weil man sie den eisigen Temparaturen des Frachtraums nicht aussetzen darf, fuhr schon seit gestern voraus. In den Konzerthäusern standen sie dann, die Instrumente, in riesigen Koffern wie Schränke, und wie in Schränken hing in anderen Koffern die Abendgarderobe, die man aus ihnen vor den Konzerten herausnahm.Nachdem die Eincheck-Knäuel passiert waren, zwängte sich Zagrosek mit uns in die enge Economy. „Das hat so noch keiner gemacht“, sagte später wer. Normale Dirigenten flögen Erster Klasse voraus.Stauproblemchen mit dem Handinstrument. Ein Witz von aufblasbaren Geigen weht durch den Gang, während ein Steward, der exakt wie Burkhard Spinnen aussieht („Burkhard, was machst d u denn hier?!“), sich an den Sicherheitsanweisungen übte, wozu sein warnender Nachdruck das Unwahrscheinliche eines Druckverlusts in der Kabine betonte und daß dann Atemmasken aus den Abdeckleisten fielen. Eine Bratschistin stimmte das matt. Alle sechs Sekunden stürbe ein Raucher, ließ die Kompaktwelt vernehmen. Zagrosek schlug auf dem Schoß die Partitur auf und versank, als wir stiegen. Bilder fangen, vorüberhuschende Sätze. Immerhin stach auf Mallorca die Sonne.Zagrosek saß, und er mustert die Truppe. Ein klarer, herrlicher Flug übers Meer, das spanische Festland indes albtraumartig gescheckt: als wäre über alle Felder ein Gips gestreut und zu leichenblassen Flächen verschmiert.In Madrid harren drei Busse. Stückweise geht’s durch den Abendverkehr. Sechs Stunden Überlandfahrt nach Valladolid, nach vieren wird leise gemurrt. „Wer organisiert denn sowas.“ „Ich bin schon länger gefahren.“ „Aber nach Japan.“ Um Viertel nach sieben steht der westliche Himmel in Flammen.„Wie in Afrika“, sagt eine Musikerin, „wie in Afrika“. Als wir nach insgesamt elf Stunden anlangen, ist’s dunkel. Ich treff den Intendanten im Foyer. „Die sind alle in die Stadt.“ Tapfer war er mit busgefahren, indessen Zagrosek mit dem Wagen voraus.
„Jetzt aber bitte Konzentration!“ Ein hochmoderner Konzertsaal; seit der EU investiert das Land enorm in Kultur. Man hat den Eindruck, was wir uns ausdörren lassen, erstehe dortens wieder auf. Zagrosek will anderthalb Stunden durchproben lassen, man spürt die Anspannung, auch Spannung.Noch immer nicht bin ich dem Orchester vorgestellt, ich komm mir wie ein IM vor und kommentier das hier und dort in halbironischen Honneurs. Werde mit Geschichten entgolten. „Wir waren nach dem Anschlag auf Atocha hier, um Mahler VI zu spielen, Sie wissen, die mit den Hammerschlägen im Endsatz. Das war unter Inbal. Keiner wußte, ob’s überhaupt noch stattfinden kann. Wir warteten nervös. Es fand statt. Der Saal war proppevoll. Inbal dreht sich zum Publikum, spricht ein paar Worte, dreht sich zu uns und fängt zu dirigieren an. Ich bekomme noch jetzt einen Schauer. Wir spielten wie wahnsinnig. Da habe ich wieder gemerkt, was Musik ist.“ Heut aber Schubert. „Kennen Sie den Nachmarkt in Wien? Das ist, was in Berlin der Gendarmenmarkt ist. Auf dem wird exerziert. Auf dem Naschmarkt aber? Nun also! Naschen müssen’S Ihna bei dea Melodie!“Schon nach Zaragoza weiter, wieder sechs Stunden Busfahrt. Die man sich mit Skatspielen kürzt. Ich sitz bei den Jungen. Nenn mir eine Stadt mit M. Bis einem keine mehr einfällt, der ist dann raus. Dichter Nebel, keine zehn Meter sieht man weit. Ein Fußball fliegt durch die Reihen. Auf der Puppe Klein Zaches wird Geige gespielt.Dann auch Posaune. Wir singen eine Ursonate. Fotos von erigierten Raketen gehn um. Auch heiteres Dirigentenraten. Gielen sei immer auf Eins, und der alte Karajan scheint jeden Schlag erwürgt zu haben. „Wenn einer was mit dem Haar macht, ist das immer Muti.“ Wozu die Cellistin sospiert.
„Ich möchte mich für das wunderschöne erste Konzert bedanken. Aber heute haben wir Schumann, das ist poetische Prosa. Ich möcht Sie bitten, so auch zu spielen.“Aber es klappt nicht. „Fagott!“ Dann ein wirklich scharfer Ton, als die Geigen falsch phrasieren. „Ich akzeptiere diese Opposition in gar keiner Weise.“ Zischend die Luft in die Zähne gezogen, Eis rollt übers Podium. Da schmilzt es. Verdunstet. Wird Musik. Noch 48 Minuten bis zur Aufführung. „Angst klingt gut“, wird mir hintertragen. Jedes Konzert steigert das nächste. Ein ununterbrochener Schaffensprozeß. „Wir hatten ja gestern unsere Generalprobe“, sagt Zagrosek nächtentags in Pamplona. Er will noch einmal den Haydn proben. Dreht und dreht die Schraube an, legt auf jede Note den Finger. „Keine Privatgespräche jetzt.“ Er läßt die Hände an den Pultseiten ruhen. Schweigt. Schweigt weiter. Schließlich präzise: „Dafür habe ich keine Zeit.“ Dirigiert ein paar Takte und bricht ab. „Ich wünsch uns ein gutes Konzert.“So kommod es sich anhört, so dramatisch geht es nun zu. Es sind Menschen unterwegs, an die einhundert, nicht Maschinen. Der Orchestermanager ist quasi permanent im Einsatz. Bis zum Tournee-Ende wird das so bleiben. Auch wenn er überfallen wird, tags, auf offener Straße, mit paar Kopfnüssen aber davonkommt. „Warum haben Sie das nicht erzählt?“ „In Berlin passiert sowas auch, man darf die Leute nicht beunruhigen. Solch eine Nervosität können wir nicht auch noch brauchen.“ Im Supermarkt ist ein Geiger kollabiert; eine erkrankte Kollegin muß ausgeflogen werden; eines dritten Musikers Familie ruft ihn zu einem Trauerfall heim; der Hornist liegt an Fischvergiftung darnieder; zwei Kontrabässe kommen ins Rutschen… sie rutschten und rutschten, die Zar­gen reißen. Ein Stück Posaune droht abzubrechen, Materialermüdung, sowas kommt vor. Für drei der fünf Konzerte müssen immer Notinstrumente paratsein. Der Spieler telefoniert sich halb darum tot.Er hat mit einem spanischen Kollegen in London studiert, den kennt er, der hilft. Zu alledem exerziert, nächtlich von draußen, die Müllab­fuhr auf den Hirnsaiten rum und des Autobahnzubringers Rauschen von Llei­da. Die selbstverschuldet langen Nächten will ich gar nicht betonen(obwohl es sich lohnte, sie zu erzählen). Und ewig die Überlandfahrten. „Japan aber ist schlimmer ge­wesen, raus aus die Koffer, rein in die Koffer, 14 Konzerte in drei Wochen, oft mit Flügen dazwischen…“ – doch zieht sich das alles im Fokus des je nächsten Konzertes zusammen. Auf dieser Reise wird man zum Zeugen, wie hautnah höchste künstlerische Leistung und ein gelebtes, durchgelebtes Leben miteinander verbunden sind, wie einander nährend, einander tragend und haltend und zwingend.
Was dann in Lleida geschieht und zwei Tage drauf in Madrid, werden klingende Wunder. Erkämpfte. Denn immer sind da Säle, die man nicht kennt. „Nicht e i n Ton von den Geigen kam bei mir an!“ So spielt man in den leeren Klagraum, das Publikum aber hört ihn als vollen. „Wir waren hier nicht gemeinsam am Takt, da nicht… und Ortnit setzt immer zu früh ein.“ Donnernder Baulärm vorm Hotel.Ein Horn übt Mahler III. Eine Geige läuft hinter Zimmertüren ihre Tonleitern rauf und wieder hinunter. Die junge Dame an der Rezeption will uns nicht nachts im Foyer sitzen haben, wo wir in kleinem Kreis Musikdetails besprechen wollen und die heikle Situation des Konzerthausorchesters in dem Berliner Kulturhickhack. „Also diese Musik lieben, das mußt du s c h o n,“ erzählt mir ein Orchesterwart, „bei den Aufbauten abends, da muß alles stimmen, alles muß da sein. Und manchmal ist man auch Psychologe ein bißchen und manchmal ein bißchen autoritär, damit alles dasitzt dann pünktlich.“ Zwei Stunden noch bis zur Anspielprobe, die Musiker sind auf ihre Zimmer entfleucht. Sie baden. Sie üben. Der Bus holt uns ab und verfährt sich, verfährt sich dreimal, fährt dreimal um Lleida herum. Zagrosek sitzt am Podiumsrand und lächelt bitter ergeben. Wartet. Erklimmt sein Pult. „So. Schubert!“ Und: „Das Licht! Das Licht ist schlecht! Bitte!“ Dirigiert weiter, während die Technik noch bastelt. – „Pause!“ – Es strömt das Publikum rein,Massen, und alle wolln hören, und das, was in der Probe noch Stahl war, nichts als aggressiv Stahl, wird jetzt Seide… der Bruckner ersteht, und zwar, ohne daß nach dem Publikum mit den Schwarten bougeoiser Selbsterhöhung geworfen würde. Ich kann nicht anders, als die Backen zu blähen und leise „Boaah!“ auszustoßen. Der kleine Mozart noch hinterher, der nicht klang, sondern schwebte.Einer, der aufsteht, um Bravo zu rufen, ein nächster, selbst Severin v. Eckardstein, der Solist am Klavier, steht auf, um zu klatschen… weitere stehen… ein nächstes Bravo. Über dem ganzen Orchester ein Lächeln, das sich selber nicht faßt. Am Dirigentenzimmer stehen Leute um Autogramme. Ich dräng mich an ihnen vorbei. „Sind Sie Musiker? Was spielen Sie?“ Ich schüttle den Kopf, weitre Autogrammjäger kommen, Programmheft und Stift in der Hand. Ich weise sie die Treppe hinab.
„Danke“, sag ich zur Hornistin, „ihr habt heute Menschen glücklich gemacht.“ Es bleibt nicht viel Zeit, das zu genießen. Weiter geht’s nach Madrid, abermals Busfahrt, sieben Stunden gewiß. Riesiges Tohubawohu dort im Foyer. Man hat die elektronischen Zimmerschlüssel unnumeriert aufeinandergelegt. Das dauert nun abermals Stunden.Tränen waren im Bus geflossen, es ging um die Liebe… Und Amalia muß kurz nach Hof, hat ein Konzert da und wird für unsres übermorgen zurücksein. Sofern der Flieger das mitspielt. Doch ist ein Vertrag zu erfüllen. „Ich brenne trotz der arktischen Temperaturen darauf, wieder zu Euch zu stossen“, schreibt sie aus Deutschland in meinen Blog. Im letzten Moment wird noch der allerletzte Platz für eine Viruserkrankte erbucht. Dem Orchestermanager steht der Schweiß auf der Stirn. Abends aber, das wird ein Triumph, sitzt er müde neben mir und sagt nur noch leise: „Ich kann überhaupt nichts mehr hören.“„Wie klingt das im Auditorium?“ fragt Zagrosek. „Großer Ton, aber im Baß viel zu schwer“, kommt zurück. Es geht um den Schumann. „Bruckner“, sagt Helge v. Niswandt, „ist Hantelstemmen, aber Schumann, das ist, als fädelst du Fädchen in Öre.“ Zagrosek: „Bitte… in diesem Saal… bei Piano wirklich piano sein, und locker, hier trägt das alles.“ Bisweilen sieht man das Lächeln von Lleida auf seinem Gesicht. „Bitte vor Otto im achten Takt jetzt noch mal… das war da ein bißchen langsam… – ja, nochmal… entspannt…“ Aus dem Orchester: „Können wir noch einmal ab Takt 43…?“ Zagrosek sieht nach, nickt, „natürlich“, überlegt in Sekundenbruchteilsschnelle, „ab Takt 41 besser“, unterbricht sich: „… diese Energie, die das hat…“ Und dann –– das Nachtkonzert, 22.30 Uhr, die fetten Bissen schwer im Magen, die wir eine Stunde davor in der Tapasbar nahmen. Von der Decke tölte der Fußball und ging in Schreie erst von Begeisterung über, doch dann schon des Schreckens der Verlierer…„Was ist denn hier los?“ fragte mein Nachbar, weil der Kon­zertsaal so brechend gefüllt war. „Wer geht denn um diese Zeit ins Konzert?“ Wer gegangen war, den, ganz, erhob es.
Es gibt Aufführungen, die ein Geheimnis haben, das niemand erklären kann; es bleibt ein schwingendes Ungefähres, das sich nicht auflösen läßt. Und doch hatte man’s selbst in der Hand, da ist niemand von außen, es zu steuern. Dieser Abend war so, würde so werden. Bereits bei Stravinskis klang das an und brach in v. Eckardstein durch. Doch dann kam der Schumann, und dann kam der Jubel. An die acht Mal mußte Zagrosek wieder herein, es wurde geklatscht und geklatscht, und es wurde gerufen, und die Zugabe glomm vor solch mozartscher Leichtigkeit, unter der die mozartschen Wolken aus moll ferne grollten, daß man weinen hätte wollen, wäre nicht dieser Tanzschritt gewesen und nicht solch eine lächelnde Nähe über allesdas hin.
Woran es lag? „Das sagt sich nicht.“ Man war gar nicht einig zu Anfang, war gar nicht ganz richtig im Takt. Aber hatte den Bruckner von Lleida noch voll gegenwärtig. Und Zagrosek reckte sich, reckte sich ins Orchester hinein, und dann nahm er es mit sich. Alle folgten. Sie gaben dieser Dritten die Wahrheit zurück. Wieder mußte Zagrosek vors Publikum treten, wieder sich das Konzerthausorchester erheben. Selten sah ich Menschen so strahlen, die so oft jetzt die Busse bestiegen, Tapas gegessen und Albernheiten gemacht hatten, genervt gewesen waren, übermüdet vom Stress, die kleinen Augen an den Morgen, die auf halb durchzechte Nächte folgten oder sowieso schlaflos, weil die Zimmerwände so hellhörig sind, daß man nicht ruhn kann in dem Krawall von der Straße und sich nach einer Brust sehnt und seinen Kindern, und weil der Kaffee salzig… „Nachtkonzerte!“ rief Zagrosek später, von Gratulanten umdrängt, „die machen wir jetzt in Berlin!“
Das sollte man tun. Vielleicht daß dem Senat, wenn er auch lieber Rosenstolz hört, dann bewußt wird, welch eine Art von Orchester das ist, das in den Verteilungskämpfen zwischen Barenboims Staatskapelle, Rattles Philharmonie und vormals Naganos DSO nach und nach zerrieben wird, unerachtet seiner Tradition, der Qualität sowieso und unerachtet dieser klängewerdenden, drängenden Jugendlichkeit. Zagrosek, in der Tat, könnte das wenden, der, die nächsten Partituren unterm Arm, nächstentags wieder mit in die Economy einstieg, auf dem Sprung schon zur wiedernächsten Tournee. „Wir müssen noch den Wein trinken gehen.“ „Wann werden Sie zurücksein?“ Er studiert IL Prigoniero ein, in Paris. „Komm‘ Sie dahin? Schaun Sie sich’s an?“ Dann Verabschiedungsszenen, bereits am Berliner Tegeler Rand. Und morgen wieder, für alle, der reguläre Dienst.

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