5.31 Uhr:
[Arbeitswohnung. Zemlinsky, Erstes Streichquartett.]
Zwar pünktlich auf, aber aus persönlichen Gründen erst etwas später von Am Terrarium nach hierher losgekommen; obendrein mußte ich, bepackt wie ich war, nach einhundert Metern noch einmal umkehren, weil ich die Milch vergessen hatte, die ich gestern drüben für hier besorgt habe. Jetzt aber dampft vertraut mein latte macchiato.
Richtig gut wurde ich gestern nicht mehr, beim Cello, zu dem ich mich zu flüchten versuchte, sogar schlecht: so sehr machte mir >>>> das zu schaffen. Der Profi abends in >>>> der Bar, als ich ihn noch auf einen Cocktail und ein Bier traf: „Du hast in der Hinsicht einen Schlag weg. Die Leute von der Hacks-Seite sind doch einfach nur dumm, das merkt man doch, sowie man da zu lesen anfängt.“ Er hält übrigens auch einiges von >>>> Hacks. „Und natürlich wollte der Typ eine Nazi-Nähe insinuieren, aber justiziabel ist die gewählte Formulierung nicht, weil ja auch eine ganze Menge anderer Leute aus deiner Familie in Führungspositionen sind, ob nun bei der Deutschen Bank, bei Henkel, ob dein Vorfahr, der General war. Also k a n n man doch sagen: Zu führen liegt bei dir in der Familie, ohne daß man dafür gleich auf Joachim Ribbentrop abstellen muß. Laß die Leute doch schwatzen oder sag, das ist noch besser: ‚Na klar habe ich eine Führungsposition, und, logisch, das ist bei uns schon Tradition.’“
Ich habe leider diese Distanz nicht. Letztlich ist das ein Kindheits- und vor allem Jugendtrauma, das mir ja auch völlig bewußt ist, gegen dessen zeitweiliges emotionales Hochkochen ich bei solchen Gelegenheiten aber nicht ankomme, und hab ich dann keinen Gegner, dem ich Kopf an Kopf gegenübstehen und mit dem ich die Sache kämpferisch austragen kann, dann richtet sich die Aggression gegen mich selbst, dann werde ich depressiv und als Folge in meiner Arbeitsfähigkeit gelähmt. Ich komme ja insgesamt mit Depressionen, auch bei anderen, nicht klar und meide schon den Umgang mit Melancholikern, weil sich die schwarze Galle wie ein Grippevirus in mich überträgt. (Man muß das wahrscheinlich so sehen: Ich hab den in mir, s e h r in mir, aber es ist mir gelungen, ihn ins Inaktive wegzukapseln. Das war seinerzeit auch eines der Themen während meiner Psychoanalyse: meine Lust daran, in Krisengebiete zu fahren, am Rand ausbrechender Vulkane zu stehen usw. ist durchaus als suizidale Grundstruktur interpretierbar, die sich aber in Vitalismus umgebogen hat; denn erst mal würde sich ja kein normaler Mensch unbedingt in solche gefahrträchtigen Situationen freiwillig hineinbegeben; ich eben aber schon).
Egal, jedenfalls wurde auch mein ohnedies noch anfängergestümpertes Cellospiel so richtig schlecht, so daß ich fluchend über meinem Instrument Am Terrarium saß, aber auch auf anderes nicht rechte Lust hatte. Jeder Griff ging daneben, jeder Ton war schief und tat weh. Ich war dann ganz froh, daß ich es wenigstens hinbekam, mich zu dem Treffen mit dem Profi aufzuraffen und die halbe Stunde durch die Nacht zu radeln.
Gegen viertel vor zwölf war ich dann wieder daheim, sah noch in Die Dschungel, schrieb zweidrei Antworten, in denen ich mich wahrscheinlich mal wieder in eine Ecke verrannt habe, aus der ich nun irgendwie wieder rauskommen muß, und ging sowas um ein Uhr schlafen, wobei ich, als suchte ich Schutz durch Wärme, das Zwillingsmädchen tief in den Arm nahm. Daraufhin krabbelte auch der Bub auf mich drauf, und so schlief ich dann ein.
Ich bin mit der ARGO-Zusammenstellung für den >>>> horen-ANDERSWELT-Band noch lange nicht fertig. Hoffentlich krieg ich bis morgen (Abgabeschluß) wenigstens die Original-Textteile zusammen. Danach muß ich sehen, was aus diesem Arbeitsjournal und den Skizzen verwendbar ist; das wird auch eine Platzfrage sein; und die Fotos und anderes Recherche-Material für ANDERSWELT ist zusammenzustellen und auf einer gesonderten CD zu brennen. Für einiges sind ja dann später copyright-Anfragen um Abdruckgenehmigungen zu stellen; das ist zwar redaktionelle Sache, aber vorbereiten muß ich das.
In den nächsten anderthalb Wochen sollte nun endlich >>>> die neue Buchfassung von MEERE auf dem Markt sein. Da ergibt sich nun n o c h ein Problem, das diesmal das Feuilleton betrifft. Zwar ist über MEERE bereits immer wieder publiziert worden, aber nicht über das Buch als Literatur, sondern nahezu ausschließlich über den Prozeß und das Buch-als-Skandal. Die meisten Redakteure halten sowas schon für „besprochen“. Deshalb müssen andere Wege gesucht werden, den Roman wieder ins Bewußtsein zu rücken. Es geht ja auch und gerade >>>> in diesen Zusammenhängen um eine inhaltliche Auseinandersetzung, um von der formalen Kunstbewertung ganz zu schweigen. Wegen der von >>>> dielmann verschuldeten Verzögerungen nutzt uns nun auch >>>> die VOLLTEXT-Ausgabe nichts mehr.
Ich habe ein paar Antworten zu schreiben, jetzt, mit etwas mehr Distanz. Und dann geht’s wieder an ARGO/horen.
17.11 Uhr:
Glück.
Ich habe soeben auf dem Cello mein erstes Stück von Henry Purcell gespielt. Ein sehr einfaches, aber von Purcell und mit allen Fingern.
Sitze immer noch über der Textzusammenstellung für den >>>> horen-Anderswelt-Band. Die drei Romane sind durchforstet, jetzt geht’s an Arbeitszusammenhänge innerhalb Der Dschungel. Um 18 Uhr radle ich heim und werde dann abends noch Am Terrarium weitermachen. Es ist aber eh schon gewiß zu viel Text.