Arbeitsjournal. Sonntag, der 11. Januar 2009.

9.30 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Seit acht Uhr sitze ich an der >>>> Fortsetzung meiner Lektorate für das virtuelle Seminar. Mein Bub schläft noch, auf seinem Lager vor dem Schreibtisch. Aber jetzt regt er sich. Ich drücke mich etwas aus dem Schreibtischstuhl hoch, strecke mich, um über Schreibtisch und zweiten Arbeitstisch hinweg in sein Gesicht zu sehen. Ah ja, und er lächelt. „Guten Morgen, mein Sohn.“ „Guten Morgen, Papa“. Dann werd ich wohl gleich mal seinen Morgenkakao zubereiten.
Er hatte doch wieder bei seiner Freundin schlafen wollen, aber nachts um zehn kam ein Anruf: „Papa, kann ich wohl d o c h wieder bei Dir schlafen?“ „Aber sicher, komm nur her.“ Zwanzig Minuten später war er da, der knapp neunjährige Bursch, ganz außer Atem: „Ich bin gerannt, sowas von gerannt, Papa, wegen der Betrunkenen und wegen der Leute, die Kinder stehlen.“ „Na, vor denen mußt du keine Angst haben nachts, wirklich nicht. Wenn so ein Kinderhändler nachts auf Raubzug geht, hat er ’n Knall. Warum, Junior?“ „Weil da gar keine Kinder mehr auf der Straße s i n d?“ „Na eben. Und die Betrunkenen, die sind nicht mehr schnell genug, sind sie betrunken. Ist aber trotzdem gut, daß du dich beeilt hast. Also: Zähne putzen und ab aufs Vulkanlager!“ Zehn Minuten später schlief er.
Um sechs ging der Wecker, ich hatte noch Ewigkeiten mit Αναδυομένη geskypt, mir aber zuvor zwei DVDs ausgeliehen, von denen ich dann noch eine sah; ganz nett. An sich hatte ich früh zu Bett gewollt; war dann halt abermals nix. Bis halb neun war ich mit Do essen gewesen. Ich hatte von einer Freundin Αναδυομένηs erzählt, um die sich die Venus große Sorgen machte. „Frag doch bitte mal Do“, hatte sie mich vorabends gebeten. Die nun: „Das klingt nach einer starken Borderline-Störung.“ Do hat seit je einen enormen Instinkt, verbunden mit ihrer langen klinischen Erfahrung und der Erfahrung aus der Frankfurter Praxis sollte man auf sie hören. Ich denke jetzt nach und nach. „Ein Borderliner ist nicht böse, er ist nicht einmal strategisch, sondern einfach hilflos“, sagte sie. „Das ist sehr leidvoll. Stell es dir so vor: Er steht ständig auf halbem Weg zwischen Normalität und Psychose, geht mal ins eine, mal ins andere, ist völlig zerrissen, und meistens weiß er gar nicht, was der Grund ist.“ „Und wenn er dann kifft?“ „Dann ist die Psychose g a n z nah, mal abgesehen davon, daß dauerndes Kiffen die Intelligenz zerstört. So jemand braucht dringend Hilfe, aber niemand kann sie ihm aufzwingen. Er muß selbst darum suchen. Aber geheilt werden kann das nicht, nur das Ausmaß gemildert. Es ist eine Disposition, wie jemand blaue oder grüne Augen hat. Diese Menschen sind vor allem beziehungsunfähig, sie schwanken jäh und können für das ihnen Liebste von der einen zur anderen Sekunde überhaupt nichts mehr empfinden. Und alles, was sie gerade empfinden, empfinden sie als absolut, nichts anderes darf das stören. Desalb gibt es mit ihnen keine Verläßlichkeit, weil sie diese Verläßlichkeit eben in sich selber nicht haben. Wie sollten sie denn? Sie leben in ständigem inneren Widerstreit; um den Leidensdruck zu mindern, konzentrieren sie sich dann immer nur auf eines, k ö n n e n sich immer nur auf eines konzentrieren. Vielen von ihnen ist es unmöglich, auch nur beim Essen zugleich noch Musik zu hören: sie haben das Gefühl, darüber verrückt zu werden.“ Da erschrak ich und war für einen Moment wie starr. (Ich notiere dies, weil mir klargeworden ist, wie viel einige meiner Frauenfiguren von solchen Symptomen haben, vor allem >>>> Niam, bei der das ins symbolisch Konkreteste gesteigert worden ist. Daß ich selbst also von genau so etwas aufs höchste angezogen werde – aber: warum? -, und daß es mich immer wieder zu neuen und aberneuen Figurationen inspiriert hat, die imgrunde um ein Immerselbes kreisen. Bereits zur >>>> VERWIRRUNG hatte Do damals, 1982, bemerkt: „Das liest sich wie ein poetisch umerzähltes Fachbuch der Pathologie.“)

So, ich mach jetzt den Kakao. Dann geht es ans Cello, erst mit dem Buben, der jetzt malt, dann selber. Mittags radle ich zu Αναδυομένη hinaus, und abends sind wir >>>> in der Oper.

10.01 Uhr:
„Papa, wann liest du mir wieder vor?“

[Tschaikowski, b-moll-Konzert (Richter/Karajan).]

7 thoughts on “Arbeitsjournal. Sonntag, der 11. Januar 2009.

  1. sss wenn man nun das manchmal liest, fragt man sich,
    worin sich das unterscheidet von den verschiedenen casting formaten, die mit exhibitionismus und vojourismus spielen, ähnlich einem affen im zoo, der seine spielchen betreibt, um die ein oder andere erdnuss zu fangen

  2. sieh´an, sieh´an…ich habe das borderline-syndrom.
    den begriff hierfür zu kennen, ändert allerdings rein gar nichts.
    und getreu der werbung:
    sind wir nicht alle ein bisschen borderline?

    herzlichen dank,
    cn

  3. Zu Borderline. Ich verstehe nicht, … warum die Fähigkeit zu tiefer und ungefilterter Sinneswahrnehmung in Zukunft kein Vorteil sein soll? Leiden ist es, wenn der Körper in seinen physischen Funktionen, dem Anspruch des Geistes (noch) nicht zu folgen mag.

    Hilfe bedarf es da kaum und wenn dann nur im „UPGRADE“ des menschlichen Körpers. Das wiederum hat die Evolution immer von selbst übernommen.

    KIFFEN verlangsamt die Wahrnehmung. Sie können sich das „Fenster“ dann bewußt aussuchen, in das Sie springen wollen.

    1. @4571213. Wenn Sie meinen, daß Sie sich die Psychose aussuchen können, ja sogar wollen, dann nur zu. Man kann nur hoffen, daß Sie für niemanden Sorge tragen müssen. Was einer für sich allein tut, das sei, da sind wir einig, ganz ihm selbst überlassen. Im übrigen geht die Kifferei, und das ist nachgewiesen, auf den Willen, so daß von aussuchen allenfalls noch eingeschränkt die Rede sein kann, um vom Ausdumpfen der Intelligenz ganz zu schweigen -auch dieses ist empirisch nachweisbar. Alles andere ist Esoterik, bzw. Ideologie.

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