Arbeitsjournal. Sonntag, der 1. Februar 2009.

14.39 Uhr:
[Arbeitswohnung. Stille.]
Nach dem Mittagsschlaf. Espresso. Ich hab so t i e f geschlafen. Und geträumt. Mit einem solchen Kater war ich morgens aufgewacht, aber eher einem Seelenkater, obwohl Αναδυομένη, zu der ich im Anschluß an den Kindergeburtag nach Johann P. Tammens Lesung und Feier gefahren war, mit vollem Recht angemerkt hat, das habe sie lange nicht mehr erlebt, wie sich einer mit derartiger Systematik ab„schießt“ (war mir neu, das Wort): auf der >>>> Ausstellungseröffnung nebst Lesung und >>>> Konzert erst Wein, dann Bier; auf der Feier schließlich wieder Wein, dann einen halben Birnenbrannt, bei Αναδυομένη schließlich noch Grappa… – „aber ich kann das verstehen“. Zwei Tage lang, na ja, anderthalb Tage lang war ich wieder Vater und in der Familie, die Zwillingskindlein, die mich nach wie vor Papa nennen, aber auch ihre Mama nennt mich für die Kinder weiter so, kletterten auf mir herum, tobten mit mir herum, ohne daß ich doch ihr Papa mehr bin, noch es sein kann…..

– …. scheiße, jetzt hab ich grad den ganzen Espresso umgekippt, und das Zeug lief über den Schreibtisch und spritzte auf und lief unters Mousepad… aber, wenigstens, der Laptop hat nichts abbekommen… –

– … ich setz eben neuen Espresso auf… –

….. und immer wieder sah ich diese Frau an, wie sie wieder derart schön geworden, auch wenn sie sehr blaß ist und belastet, alleingelassen irgendwie mit den beiden Kleinen, die zur Zeit sehr anspruchsvoll sind, wer verstünde das nicht? – sah sie an und wußte und weiß und spielte Familie, die ich ein zweites Mal verlor, spielte für meinen Jungen, damit der ein schönes Geburtstagsfest hat, mit Mama und Papa beisammen; ich lächelte, war zugegen, alle Zeit, übernahm, trug, w o l l t e auch tragen; es war ein schönes Fest mit allen fünf Kindern, die dazugeladen, aber hörte auch die zwei Freundinnen in der Küche plaudern und dachte: welch eine andere, welch eine dir fremde Welt! sah die Unmöglichkeit, und dennoch: liebte, liebe – meine Güte! Das geht jetzt auch s o in meine Arbeit, die so gar nicht mehr geht; es bestimmt die Themen, heut morgen hab ich gleich zwei Gedichte als Themenabstracts notiert, die ich dann doch wieder nicht ausfülle, sondern einfach liegenlasse, weil ich schon den Impuls für die Bamberger Elegien so verloren habe, diese Sicherheit, aus der ich herausschrieb… sowohl die Sicherheit des Verlustes wie die Sicherheit des Neubeginns… und der Kuß zum Abschied, als ich mich aufmachte um kurz vor halb acht zu Tammen und Lesung, brannte auf meinen Lippen nach: brannte nach Vergeblichkeit. Ich wußte, so würde ich mit Αναδυομένη nicht schlafen können, würde nur bei ihr schlafen können, mit niemandem sonst hätte ich schlafen können außer mit der einen, von der ich zugleich gar nicht weiß, o b ich’s überhaupt mit ihr noch könnte. Also soff ich mich zu.
Nur Αναδυομένη hat was gemerkt, da bin ich mir einigermaßen sicher. Viele Bekannte waren da, Wend Kässens, jahrelang NDR-Literaturchef und im Vorstand des PENs, Uwe Herms, den ich schätze und mag, Uwe Kolbe, der mich aufs >>>> horen-Heft ansprach („Das wollte ich dir sagen, daß ich mich festgelesen, daß ich mich aber auch sowas von verloren habe in deinen großartigen Labyrinthen…“; tat gut), Dietger Pforte, der sich nach der >>>> Neuausgabe von MEERE erkundigte, weil er darin auftritt, als Person, die er ist („Davon will ich aber unbedingt ein Widmungsexemplar haben!“), meine Repräsentantin Barbara Stang mit ihrem Liebsten, einem hochklugen, nervösen, zugleich bedeckten Mann, von dem ich erst gestern abend begriff, an wen er mich erinnert: an Syberberg nämlich, es ist der gleiche intensive Typus von Mann; viele Dichterkollegen mehr, Peter K. Kirchhoff und Johann Tammen ohnedies; dann Vitold Rek an seinem hinreißenden Baß; nachts saßen wir neben dem Kunst-Verleger Günter Grassens und Armin Müller-Stahls, er schob mir beim Aufbruch seine Visitenkarte zu; dann kommt jemand auf mich zu, gibt mir die Hand und sagt: „Sie sind Herbst, nicht wahr? Ich wollte mich nur einmal vorstellen“: so spricht er und geht sofort wieder weg; ein junger Journalist dann, der sagt: „Ich wollte mich immer einmal bei Ihnen melden, es kam nie dazu. Da Sie nun aber hier sind und ich dem Herbst begegne, bitte sagen Sie mir, ob in diesem Jahre etwas Neues von Ihnen erscheint“… und so weiter; besonders schön Katharina Narbutovič, deren Arbeitskraft und Fähigkeiten jahrelang ausgenutzt worden sind, widerlich ausgenutzt, und die jetzt Chefin des >>>> DAAD geworden ist… nun müssen die, die sie ausgenutzt haben, s i e fragen, die n i e gefragt worden ist; ich erlebe so etwas als einen Triumph und hab ihr das auch gesagt, daß das wundervoll ist, daß so etwas eben a u c h geschieht. Sie, in ihrer skeptischen Art: „Dir glaube ich sogar…“ Jedenfalls war allenorts Achtung zu spüren vor dem, was ich tue, wenn auch mit dem Vorbehalt, den Kässens gegenüber Αναδυομένη formuliert hat, was sie mir dann später erzählte: „Wie kommt man mit so einem schwierigen Mann denn nur klar?“ – woraufhin wir dann heute morgen über Kämpfer sprachen, über Leute, die auf ständigen Kampf programmiert sind, was schon (mit Gruß an >>>> Ivanhoe’s Scott🙂 Rebecca an mir nie ausgehalten hat: „Alles ist für dich Kampf, ich kann so nicht leben, ich will den Frieden.“ Indes sie von der Nacht sprach. „Erinnerst du dich an das Spiel, das wir gestern nacht spielten?“ „Nein.“ „Ich fragte dich etwas, immer wieder, und immer wieder schliefst du über deiner Antwort ein, und immer wieder fragte ich neu, und immer wieder warst du sofort hellwach, begannst die Antwort und schliefst über sie abermals ein. Du schläfst ein wie ein Raubtier und wachst wie ein Raubtier auch auf: immer sofort wach, immer sofort tiefschlafend, wenn nicht Beute oder Feinde nah sind – es gibt für dich die Übergänge nicht.“ Was nicht g a n z stimmt, aber in der Tendenz hat sie recht.
Um zwölf war ich vorhin dann wieder hier und ging etwas ans Cello. Das werd ich auch gleich wieder tun. Dann muß ich dringend duschen. Und abends will ich in den >>>> Rossini-Barbiere von Berghaus und Freyer – eine ewig alte Inszenierung, die noch in fünfzig Jahren gültig sein wird. Ich brauche diese Musik, dieses Temperament, diesen Witz, um zu klarem Verstand zu kommen, der weniger ein klarer Verstand als ein kristallklares Herz ist aber ich weiß doch: das Herz is‘ nix als ’ne Pumpe).

Außer dem >>>> Tagebuch von heute eine weitere Überlegung zu Zufall und Bestimmtheit skizziert, aber eben a u c h nur skizziert.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .