Zu den „Miniaturen“. Aus dem Entwurf (1).

(…) Dem entsprach seinerzeit eine auch und gerade musikalische Poetologie der Entsagung, die sich mit der Erfahrung des Hitlerfaschismus auflud und namentlich von Adorno formuliert worden ist: sie gab dem schuldbeladenen Gewissen einer ganzen Nation die Kunst-Form und hing zugleich mit einer Ästhetik des Fragments zusammen, das den Schein der Abschließbarkeit, des Vollkommenen und Harmonischen zerriß und schon bei Nietzsche den geschlossenen gesellschaftlich-repräsentativen Systemen die Absage erteilte. Musikgeschichtlich war die erste Bewegung dahin eine Abkehr von den aufgeblähten Orchesterapparaturen des späten Neunzehnten Jahrhunderts, über die nach Mahlers Achter kaum noch hinauszugehen war. Ursula Krechel spricht, für die Dichtung, von „überflüssigem Erzählspeck“, auf den der gute Geschmack zu verzichten habe, und noch der Zeitgenosse läßt „Dichtung“ von „Verdichtung“ kommen. Daß kein Fleisch mehr s e i, ist geradezu die Gegenauffassung zum Barock. So gesehen ist die Miniatur ein engstes (Wieder-)Ergreifen eines ästhetisch Religiösen, das statt des Repräsentierens, dem architektonisch der Protz der Gründerzeit entspricht, auf ein „Eigentliches“, Wesenhaftes abzielt, aber schließlich in die Körperlosigkeit führt. Schon Brahms gab vor, dessen Schattenschnitt als Signet dieses Festivals dient, Musik am liebsten zu hören, indem er nur die Partitur lese: auch dies abstrahiert von der Sinnlichkeit, so unverdächtig Brahms sonst auch gewesen sein möge, vom Leben das Leben zu subtrahieren. „Alles ist eitel“, notierte eben auch er.
Dennoch gibt es ein Andererseits. Allerdings ist auch dieses religiös: Zu denken an des Maimonides Blatt, auf das sich Walter Benjamin bezieht: es enthalte alle anderen Blätter in sich („Welten“, mit Borges) und imgrunde den Kosmos wie Gottes Name, der das Verbot von Bildern ist. יהוה ‎(JHWH) wie لله (Allah): In den kalligraphischen Formen des Namens liest sich die Welt. Doch hat gerade Maimonides‘ Blatt immer wieder Bilder entworfen, poetisch sind das Geschichten, erzählte Bilder also, mögliche Welten oder auch Momente unserer Welt, doch von solcher Expressivität, daß wir vermeinen, ein Alles-zugleich zu vernehmen. Das ist mitunter nicht ohne Komik, wenn man etwa an Doderers „Kürzestgeschichten“ denkt oder wenn wir in Hans Carl Artmanns Miniaturen der Grünverschlossenen Botschaft lesen: „Ein puma sitzt in einem traumbaum und sieht dich an… Wird er springen – wird er bleiben? Das zu überlegen, hast du fünfundsiebzig herzschläge zeit.“(…)



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6 thoughts on “Zu den „Miniaturen“. Aus dem Entwurf (1).

  1. … das wesen der miniatur ist also körperlosigkeit.
    – ist mir irgendwie zu polemisch.

    zu brahms :

    wieso soll es mit sinnlichkeit nichts zu tun haben, wenn man eine partitur liest
    und dabei sogar noch musik hören darf ?
    henze meinte mal diesbezüglich, dass es ihm manchmal passiert, dass er beim
    notieren der pauken ob derer lautstärke regelrecht kopfschmerzen bekommt …

    1. @pop pupser artsy. Das haben Sie mißverstanden (oder ich drückte mich mißverständlich aus); sondern: die Miniatur à la Webern-Bagatellen f ü h r t in die Körperlosigkeit, wenn man Metzgers und Adornos Ansatz der Negativität weiterverfolgt. Das tat ich im hier ersten Abschnitt.
      Was das Lesen der Partitur anbelangt, so meine ich damit, daß der objektiv-sinnliche Reiz des Klangs von einem Außenphänomen von einem innen gehörten ersetzt wird; sprich: ich brauche nicht mehr den anderen Körper, sondern erzeuge den Körper in mir. Mir ist das zu patriarchal-parthenogenetisch, zuviel Athene, die dem Kopf entspringt, zu wenig Aphrodite, die dem Blut entsteigt. Wobei ich die Imaginationskraft Henzes in allen Ehren halte; ich kenne so etwas aus einigen meiner Erzählungen selbst: als ich sie schrieb, sah und hörte ich; das ging bis zu Angst und Lust; nur Wollust, bei mir, braucht(e) i m m e r den anderen Körper.

    2. @ anh ad brahms f.f. denke ich eher an sex mit hintergrundbeschallung die sich in den geschlechtsakt „einspeist“.
      ich meine, mozart und schostakowitsch z.b. haben doch ihre musik im kopf gehabt und brauchten das instrument nicht mehr um musik zu komponieren – sie hörten sie beim schreiben.
      sie brauchten das instrument um, sich diese herausragende fähigkeit zu erwerben, klar – später vielleicht, um ab und zu mal was auszuprobieren.
      so würde ich das mal vermuten.
      ich hab desweiteren in zwei docs mal mitbekommen, dass in den „schreibstuben“ von rihm und prokoffiev jeweils verstimmte pianos standen – es kann solchen leuten doch echt egal sein, wo sie gerade komponieren …

      ansonsten ist mir ihr anliegen ja eigentlich klar.

    3. herbst -es stellt sich doch im allgemeinen die frage, was substanzialität ist.
      was ist das ?
      formen gegeneinander auszuspielen ?
      also das wäre mir zu billig, echt – weil das nach opportunismus röche.
      wo fängt die frage nach „universaler“ steuerung an ?
      beim staat, würde ich mal sagen und natürlich so etwas wie „weltherrschaft“
      nun wie wäre der staat abzuschaffen ?
      tja.
      indem man seinen schwanz und dessen „natürliches“ kompartement zum primat
      einer stets refektierenden form macht ?
      man sollte sich eher gedanken über elitenbildung machen.
      was überhaupt elite sein könnte z.b.
      das – sie sehns mir nach – etwas fernliegend vorausgehender reflexion, ich hab einfach keine böccke auf irgendwelche paralipomene zu posten.

    4. @pop pupser artsy ff. Müssen Sie ja auch nicht. Aber das ist eine h ü b s c h e Idee, die mir nah ist: „indem man seinen schwanz und dessen „natürliches“ kompartement zum primat
      einer stets ref(l)ektierenden form macht“. Freilich, ich drückte es anders aus.
      Egal.
      Zu den Miniaturen: Es ist ein kleiner Essay, der von den >>>> Hamburger Ostertönen in Auftrag gegeben ist und den Programmkatalog einleiten soll. Nicht mehr. Im Zusammenhang Der Dschungel wirken solch skizzierte Passagen nur anders – was wiederum ihren Reiz hier ausmacht. Aber eigentlich sind es nur Arbeitsproben.

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