ich wachte auf…

…. hatte tief und fest geschlafen, stille um mich herum. „scheiße, es ist weihnachten, und du legst dich ins bett und schläfst“, dachte ich, zog mich schnell an, öffnete die tür, ging den langen flur bis zum esszimmer runter, öffnete dort die tür. niemand da, die stühle in reih und glied an den tisch gestellt, die oberfläche des tisches grau verstaubt, die blumen in der vase auf dem tischtuch eingetrocknet. „wo sind die alle?“, fragte ich mich, ging zur treppe nach oben, öffnete die tür zum wohnzimmer. meine mutter sah mich nur kurz an, sagte nichts. meine geschwister hockten, wie meine mutter, unbeweglich vor der glotze, schoben sich chips, erdnüsse… und sonstwas rein, blickten gebannt auf den bildschirm. „wann essen wir denn?“, fragte ich. „wir haben schon gegessen“, antwortete meine mutter. „wieso hab ihr mir nicht bescheid gesagt?“ „du warst nicht da.“ „ich habe geschlafen, ihr hättet mir doch bescheid sagen können.“ es kam keine reaktion, keine antwort. „da hab ihr also an weihnachten ohne mich gegessen.“ „du warst nicht da“, antwortete meine mutter wieder. das schließen der tür war nicht nur ein verlassen des raumes. einen schritt vor den anderen setzend die treppe wieder runter, den flur bis ganz hinten durchgehend, stand ich vor den drei stufen, die zur kleinen holztür führten. von dort quer über den gang in die nächste tür, bis ganz ans ende des flures. alter rot ausgefranster teppich unter meinen füßen. die tür, die keine war, öffnete ich, ging hindurch, schloß sie wieder. niemand, außer mir, hatte diese räume je betreten, dieser teil des schlosses stand seit jahren leer, die kamine wurden nicht beheizt, überall in den ecken stieg ein moder und ein geruch von bohnerwachs in die nase, die wände waren kalt und feucht. wenn ich ruhe haben und niemanden sehen wollte, flüchtete ich mich hierhin. hier stand mein bett, mein schrank, mein schreibtisch. ich liebte diesen großen raum, elf fenster hatte er, drei von ihnen mit einer sicht nach unten ins tal. alte decken funktionierte ich zu vorhängen für die fenster um, befestigte sie mit nägeln an den seiten und über den fenstern, die kerzen der leuchter gaben licht, wenn nötig, meistens brauchte ich aber keins, ich fand mich im dunkeln gut zurecht, überhaupt konnte ich erst dann, wenn es dunkel war, richtig sehen. holz hatte ich mir draußen zusammengesucht, es neben den kamin gestapelt. ich nahm einige scheite, und kleine späne, zündete sie an, blieb vor dem kamin stehen, um meinen körper zu erwärmen. als ich mich umsah, fiel mein blick auf meinen schreibtisch. dunkelrot gestrichen, sehr hoch, nicht sehr tief lehnte er an der wand, an den schubladen kleine runde hölzerne knöpfe, selbstgeschnitzt und angebracht. die schritte zum schreibtisch ging ich wie automatisch, schaute mir die dinge an, die darauf lagen, wunderte mich über das abbild einer kleinen gruft rechts am rand stehend, von der hochstehenden umrandung des schreibtisches gestützt. auf dem roten deckelchen der gruft standen acht namen. ich las sie alle, war versucht, den deckel anzuheben, wollte es erst nicht tun, tat’s dann aber doch. „grabschänderin“ dachte ich, und öffnete den deckel. acht kleine särge standen da, auf jedem wieder ein name geschrieben, darunter geburts- und sterbetag. unten rechts auf dem sarg stand anna-lena niemeyer. „das kannst du nicht tun“, dachte ich wieder, öffnete aber doch wie unter zwang den sarg. persönliche gegenstände… eine kleine schmale goldene uhr, eine brille, eine perlenkette… eine büroklammer, eine weich dunkelgraue daunenfeder eines vogels, ein verschlossener briefumschlag. die holztür knarrte, erschrocken drehte ich mich um. ein mann stand in der tür. groß war er, schlank, die uhr trug er am rechten handgelenk, leicht lockig dunkleres haar, stahlblaue augen, volle lippen, aber um seine mundwinkel ein bitterer zug. er blickte genauso erschrocken wie ich, ging zum fenster, sah ins tal hinunter, schwieg, seine hände in seinen hosentaschen vergraben. ein grünes tuch schaute unter seinem hemdenkragen hervor, quoll in seinem nacken über den kragen. seiden war es, glänzte leicht. „wo ist anna-lena?“ „anna-lena?, ich kenn keine anna-lena.“ „ich sah sie vor zehn minuten, dachte, sie wäre hier.“ „hier?, hier bin nur ich, hier gibt’s keine anna-lena“, antwortete ich, hob meine hand, richtete sie in richtung schreibtisch. „überhaupt, was soll die kleine abbildung der gruft hier auf meinem schreibtisch.“ „es ist nicht dein schreibtisch, du hast anna-lenas sarg geöffnet, du grabschänderin, und überhaupt, wie du siehst, ist es kein schreibtisch, sondern ein schrank mit vielen schubladen, also eine kommode.“ „du hast meine frage nicht beantwortet, was soll die gruft hier auf meinem schreibtisch.“ „die namen…. die namen sollen nicht vergessen werden.“ „und wieso sind in jedem sarg persönliche dinge des verstorbenen?“ „anna-lenas sarg ist leer, sie lebt noch, ich sah sie vor zehn minuten.“ „anna-lena ist ertrunken.“ „nein, ist sie nicht.“ „doch, unten im fluß, jeder weiß das.“ er ging wieder zum fenster, sah wieder nach unten ins tal. die schloßwand fiel mit dem felsen bis zum ufer steil herab, das reißen der stromschnellen hörte ich durch’s geschlossene fenster. „anna-lena ist nicht tot.“ ich ging zu ihm, legte meine hand auf seinen rücken: „doch… du mußt es endlich akzeptieren.“ er drehte sich zu mir um: „ich kenn dich nicht, das ist anna-lenas wohnung, das ist anna-lenas bett, du trägst anna-lenas kleid, was machst du hier, wer bist du?“ „ich wohne hier.“ „nein, nein, anna-lena wohnt hier.“ „nein, ich wohne hier, meine familie wohnt hier, seit jahrhunderten ist es im familienbesitz. einige teile des schlosses sind allerdings schon seit jahrzehnten unbewohnt, wie dieser hier.“