8.39 Uhr:
[Am Terrarium. Mozart, Andante und Variationen in G.]
Bis acht Uhr geschlafen, weil, als der Wecker um halb sechs klingelte, beide kranken Zwillingskindlein davon mit aufwachten und ich unbedingt wollte, daß sie weiterschliefen. Also legte ich mich wieder zu ihnen und schlief mit ihnen wieder ein. Jetzt haben sie ihren Kakao getrunken und ich hoffe, daß sie ihn, nach dem hohen Fieber gestern abend, auch halten. Der Bub hat bereits gewürgt, wir haben’s aber gemeinsam in den Griff bekommen; jetzt liegen sie auf der Wohnzimmercouch und ruhen. Mein Sohn schläft noch in seinem Zimmer, worin auch seine Mama schläft. Ich lasse alle schlafen. Vor der Wohnungstür, im Hausflur, >>>> stehen die Stiefel, wohlgefüllt. Ich erinnere mich, daß meine Großmutter für mich immer noch eine Rute mit hineinsteckte, Knecht Ruprechts latenten Peitschenteil am Zuckerbrot.
Die Morgenzigarette auf dem Balkon. Nieselregen. Novemberwetter, nachdem es die Vortag bereits eisig gewesen ist. Nach Halle wegen >>>> Danz werde ich morgen nicht fahren, der kranken Kinder wegen. Dann lieber Naturgeräusche im tieferen Glienicker Park aufnehmen; vielleicht geht es aber auch ohne das. Ich werde morgen mein Geräuscharchiv durchsehen; es hat sich ja während der vergangenen Jahre einiges angesammelt. Mir fiel, eben auf dem Balkon, deutlich auf, daß Danz’ Idee eines Anfanges und einer Grenze Europas eben nicht – anders, als ich selbst das empfinde – sich ans Schwarzen Meer verwurzelt hat: spannenderweise gehört Afrika dann nicht dazu, sondern die Grenze geht nach Asien, das mir selber, für den Europas Ursprung das Mittelmeer ist, durchaus fremd ist. Also von Indien abgesehen, aber das hat nun wirklich nichts mehr mit einem, sagen wir, Grund-Europa zu tun. Dabei finde ich Danz’ Gefühl unmittelbar einleuchtend, erhellend im Wortsinn; ihre Gedichte schüren auch in mir die Sehnsucht, nach Osten zu reisen. In dieser Weise hatte ich das noch nie; der gesamte slawische Raum hat bislang nie irgend einen Reiz auf mich ausgeübt. Seit ich diese Gedichte kenne, ist das anders. Das gibt ihnen, für mich, eine enorme Kraft.
Ich werde den Tag wohl hier am Aquarium verbringen, die Zwillingskindlein mitbetreuend. Mein Sohn und ich haben gestern fürs Üben unsere Celli mit hergebracht; wenigstens ein paar Weihnachtsduos für den Heiligabend möchte ich mit ihm einstudieren, auch wenn ich in diesem Dezember wieder nicht zum eigenen Üben kommen werde und wohl auch keinen Unterricht nehmen kann. Ich habe irre viel vergessen, alles klingt ganz schlimm, wenn ich mein Instrument vornehme. Das tut weh. Aber ich kann es momentan nicht ändern, bin bis zum Heiligen Abend (der für mich heilig im Sinn des Lichterfestes geblieben ist; der „heidnische” Mythos hat mich nach wie vor am Herzen, der christliche nach wie vor nicht) derart eingespannt mit Arbeit und Steuererklärung, daß an etwas daneben kaum zu denken ist. Hinzukommt das Manager-Gespräch, das am nächsten Montag oder Dienstag in Frankfurt zu führen ist wegen der Seminare. Diesbezüglich werde ich nachher auch noch mit MG telefonieren. Und ich habe das Bedürfnis, ein nächstes Gedicht zu schreiben.
Aber ich werd mich jetzt mal dranmachen, alle Erzählungen, die jetzt im Februar/März erscheinen sollen, in eine geeignete Reihenfolge zu bringen. >>>> Der Verlag hat sie auch noch gar nicht als Datei. Danach stelle ich für >>>> Matthes & Seitz, mit dem ich unbedingt telefonieren muß, um unser Gespräch zu terminieren, sämtliche Essays zusammen, die ich dann morgen ausdrucken werde; man hat sich dort die Papierform gewünscht. Ich denk mal, daß der Tag damit dann schon gut gefüllt ist, was meine Arbeit anbelangt.
(Und wieder der Gedanken, da ich so ungeheuer gerne Vater bin, ein kleines Kinderheim zu eröffnen, zehn bis zwölf Kinder, nicht mehr, damit der persönliche Herzenskontakt da ist und nicht notgedrungenermaßen wegverwaltet wird. Man könnte dafür ein Seitenhaus in Berlin mieten, wie die WG meines Freundes GL; jeder hätte darin ein Zimmer, es gäbe eine Gemeinschaftsküche, ein Gemeinschaftsbad und zwei drei Toiletten über die Stockwerke verteilt.)
شجرة den innigsten Morgenkuß geschickt.
21.49 Uhr:
Nun liegen alle Kinder im Bett; Deine Freundin übernachtet heute bei uns, weshalb lange keine Ruhe einkehrte. Vorher Weihnachtskekse gebacken, vor allem unser beider hochgeliebten Heidesand. Morgen geht es dann wieder in die Arbeitswohnung hinüber. Immerhin sind hier jetzt alle wieder auf dem Damm.
شجرة, mit der ich zwischendurch schrieb und telefonierte, sagte im sinnlichstem Tonfall, sie wolle mich nun auch einmal wieder für sich allein haben.
Bis Mittags den Erzählband für die Kulturmaschinen zusammengestellt. Er soll ja „Selzers Singen, Phantastische Geschichten” heißten; eben auf dem Weg von der Videothek fiel mir ein sehr viel schönerer – und wegen der erweiterten Zusammenstellung auch passenderer – Untertitel ein:
Phantastische Geschichten
und solche von fremder Moral
Morgen früh beginne ich mit der Zusammenstellung der Essays. Auch hier schwanke ich wegen des Untertitels, indes ich den Titel so lassen werde, wie er für tisch7 geplant gewesen ist.