Auf- und Niedergänge. Ein Gespräch (2)

Ein am 6. Januar 2010 begonnener Austausch zum Verhältnis von Klassik und Romantik, zu Konservativität und Moderne, zu Wolf von Niebelschütz und Peter Hacks; zu allem, bloß nicht zu Autos.

Das Gespräch wird parallel hier und auf der >>>>> Peter Hacks Seite veröffentlicht. Den vorherigen Beitrag finden Sie >>>> hier.

Und wenn er lebend noch zu etwas Nutze wäre, der Vater? Denn das ist doch das, was jeder Sohn aus bloß biologischen Gegebenheiten denkt: dass Vati unnütz ist und weg soll. Das ist sozusagen die prästabilierte Harmonie des Jungseins, zu glauben, man sei per se wichtiger. Es ist aber auf eine sehr eigene Weise jeder Vater wichtiger als jeder Sohn. Habent sua Vater, möchte man sagen. In dem Moment, in dem er erkennt, wie wichtig der Vater ist, wird der Sohn wert, den Vater, wie Sie sagen, zu töten; aber dann tut ers nicht mehr.

Prometheus, der Elvis Presley der Antike, gibt es denn einen langweiligeren unter all den langweiligen Göttern? So sehr wir in der Pflicht sind, die Antike zu kennen und zu schätzen, ihre Theologie war nun wirklich hohl. Es ist verständlich, dass Thomas von Aquin angesichts der Zustände auf dem Parnassos keinen Unterschied zwischen „Heide“ und „Idiot“ macht. Ich stimme Ihnen aber in jedem Falle zu, die Moderne nimmt das Alte nicht mehr als Prüfstein des Neuen, sondern beweist das Neue durch das Töten des Alten. Für die Moderne soll das Neue qua Neusein dem Alten vorzuziehen sein. Die Klassik hält dem Samba von Bewegung, Revolte und Aufbruch indes in aller Gelassenheit zwei Maximen entgegen: „Das zu Ändernde werde geändert.“ „Wahr ist, was zutrifft.“ – Wenn ein Anhänger der Klassik von einem ungebetenen Prometheus belästigt wird, dann hat der für diesen einen simplen Hinweis parat: „Stellen sie sich gefälligst hinten an!“ Ich finde deswegen auch, dass Sie dem Pop gegenüber ungerecht sind. Pop, das ist tönende Moderne. Pop, das ist Prometheus am Synthesizer.

Sie sehen, wir haben schon jetzt ein Gespräch, das es wert ist: Zwei reden zueinander, höchst beteiligt und gewillt, keiner versteht auch nur im Ansatz, was der andere sagt, der Spaß ist erheblich und hinterher sind alle klüger.

Sie verwenden das Wort Emanzipation als sei Emanzipation ein Ideal. Aber man muss doch fragen, Emanzipation wovon? Von der Wahrheit zum Beispiel?, von der Folgerichtigkeit?, von der Nächstenliebe? Emanzipation von der Emanzipation, das wäre mal ein interessantes Thema. Die Klassik ist in diesen Fragen wesentlich weniger statisch, als Sie zu denken scheinen. Sie strebt nach Kritik im Sinne Kants, nach dem umfassenden Verstehen einer Sache in all ihren Aspekten. Emanzipation von der Einseitigkeit, das ist Klassik. Das mag altväterlich wirken, aber es ist es nicht; das Altväterliche lobt das Alte, weil es das Alte ist, und ist damit nur die Umkehrung der Haltung der Moderne, die das Neue lobt weil es das Neue ist. Die Klassik lobt das, was das Bessere ist. Epoche und Herkunft spielen für sie dabei keine Rolle. Sie kennt insofern, Hegel und Nietzsche zum Trotze, keine Zeitgebundenheit, wenigstens in ihrer Haltung nicht.

Napoleons von Ihnen „Prozeß“ genannte Politik war auf ein Ziel in Raum und Zeit gerichtet. Ohne dieses Ziel war sie bedeutungslos. Und es war dieses Ziel tatsächlich die Herstellung einer Harmonie. Jede Harmonie ist ein System, anders kriegt man die nicht. Harmonie im Politischen ist nichts anderes als das System der Praxis des Allgemeinen. Das ist, was die Klassik im Politischen will; wobei ihre Anhänger oft und gern dem subjektiven Laster fröhnen, von Politik nicht viel zu halten. Klassik und Konservatismus zum Beispiel unterscheiden sich in der einen zentralen Frage, der nach dem Staat. Konservative sind hier tief gespalten; die Anhänger der Klassik halten den Staat für die Bühne, auf der die Frage nach dem Gesamt entschieden wird, und bejahen ihn darum um seiner selbst willen; die Romantiker verneinen ihn aus genau denselben Gründen, denn sie wollen, dass nur der Einzelne und das Seine vulgo sein Eigentum eine Bühne finden sollen.

Sie beschreiben eine Regel, der historisch immer und immer wieder bestätigt wird: Nachdem ohnedies einmal alles umgeworfen ist, stellt sich einer dem Vorgang voran, hebt auf, was aufzuheben ist, und schreibt den neuen Zustand der Weltkarte ein, bis er festgesetzt wird. Das, was die Dinge umwirft, ist entweder eine Revolution, eine von oben oder von unten, meistens ersteres, oder, seit neuestem, ein Weltkrieg. Und damit sind wir wieder bei unserem gemeinsamen Freund Wolf von Niebelschütz: Der hat, wem sage ich das, während und nach dem Zweiten Weltkrieg zwei Romane vorgelegt, „Die Kinder der Finsternis“, im 12. Jahrhundert spielend, und „Der blaue Kammerherr“, im 18. Jahrhundert spielend. Es sind im Grunde zwei Teile eines Gesamtwerks, das man nennen könnte „Roman der Staatskunst“, wäre der Titel nicht von Ludwig Reiners okkupiert. „Die Kinder der Finsternis“ sagt uns, wie ein neuer Staat gemacht wird, man könnte den auch nennen den Richelieu-, Robespierre- oder Lenin-Roman; „Der blaue Kammerherr“ sagt uns, wie ein Staat Dauer bekommt, man könnte den auch nennen den Friedrich-, Napoleon- oder Bismarck-Roman.

Was ich unbedingt mit Ihnen teile, das ist der Abscheu vor der Weltgeschichte. Ich weiß nicht, ob ich Ihre Beispiele für Verbrechen am Menschen stehen lassen würde, aber I get the drift. Meine Sorge ist nur, dass Abscheu nichts besser macht. Die Weltgeschichte, soweit ich sie verstanden habe, hat sich von Abscheu noch nie beeindruckt gezeigt.

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11 thoughts on “Auf- und Niedergänge. Ein Gespräch (2)

  1. herr thiele … „Prometheus, der Elvis Presley der Antike, gibt es denn einen langweiligeren unter all den langweiligen Göttern? So sehr wir in der Pflicht sind, die Antike zu kennen und zu schätzen,“ …

    würde mal sagen morpheus wäre schon mal langweiliger als prometheus und morpheus hielte ich persönlich schon für geeigneter, der elvis der antike gewesen zu sein ( was die musik anbetrifft ).
    was den tanz von elvis anbetrifft geht das wohl eher in richtung „dionysos lite“ –
    und … wieso soll jemand in der PFLICHT stehen die antike kennen und schätzen zu müssen – vor allem unter künstlern ?
    für mich persönlich ist ein künstler das ( nahezu ) glatte gegenteil eines archäologen ?

    1. sorry in der eile blieb meinem kommentar ein fragezeichen hinter > archäologen stehen – ein punkt oder … gehört da von meiner seite aus hin.
      ( mit dem ausdruck archäologe bezeichne ich einen menschen der dezidiert altes zeug ausbuddelt und womöglich die ergebnise seiner arbeit später heranzieht, grundlegende strukturen eines vermeintlichen menschseins daraus fest- oder gar fortschreiben zu wollen – womöglich noch einen klassischen pessimisten oder fatalisten )

    2. noch kurz zu ihrem apercuhaften „emanzipation von der emanzipation“ -anriss :
      meiner meinung nach kommt das wort emanzipation aus dem römischen recht –
      dort steht ursprünglich der ausdruck manzipation für > scheinkauf …
      demzufolge wäre emanzipation das/ein heraus aus scheinkauf-affinen situationen.
      mir scheint das nicht unumkehrbar zu sein und somit halte ich einen apercu
      manzipation der emanzipation für belastbarer.

    3. sorry – schnelle korrektur von lapsus 2 – mir scheint es nicht angeraten zu sein emanzipatorische errungenschaften aufheben zu wollen – wieso ?
      bedeutet nicht emanzipation im übertragenen sinn mündigkeit ?

  2. Prometheus, verfettet.

    Ich habe keinen Abscheu vor der Weltgeschichte. Ich müßte ja sonst Abscheu vor mir selber haben, der ich eines ihrer Antriebsteilchen bin – wie es jeder von uns ist. Es gibt sogar Phasen der Weltgeschichte, denen ich mich liebend verbunden fühle, etwa diejenige, die Federico II, horror et stupor mundi, mitgeschrieben hat. Mir gefällt auch Albert Schweitzer, und der Entwicklung der Zahnmedizin kann ich sogar unendlich vieles abgewinnen – überhaupt erfüllt mich die Entwicklung der Naturwissenschaft mit permanenter und sich permanent steigernder Faszination.

    Davon aber abgesehen ist mir zweierlei, lieber André Thiele, bei Ihren Einlassungen unklar. Zum einen, woher nehmen Sie die Gewißheit, das „Moderne” lege es rein darauf an, das „Alte” zu überwinden, zumal inwiefern ausgerechnet i c h das verträte? Tatsächlich fühle ich mich dem Alten sehr viel weitergehend verbunden und spüre das Alte durchs Neue geradezu massiv hindurch weiterwirken, als irgend ein Klassiker dies so zugestehen würde. Macht denn nicht die Klassik, gerade sie, vor dem Alten erschauernd Halt, wo es sich in die Bilder prästabiler Harmonien nicht fügen mag? In seiner durchweg kritischen >>>> Auseinandersetzung mit meinem ANDERSWELT-Zyklus hat mir der ausgesprochen kluge Heinz-Peter Preusser unter Bezug auf Christa Wolfs Mythen-Korrekturen eine geradezu korrekturrücknehmende Korrektur vorgehalten, und er hat recht damit: Tatsächlich sehe ich, geradezu schicksalhaft, in sehr vielem scheinbar Neuen die Hörner der Alten neu gespitzt; mein Problem mit der „Klassik” ist ein völlig anderes als dasjenige, das Sie den von Ihnen so verstandenen „Modernen” zuschreiben: Insofern widerspreche ich Ihnen prinzipiell darin, daß das Neue sich durchs Töten des Alten beweise. Ganz das Gegenteil ist der Fall. Das Neue setzt das Alte gerade in Kraft, aber es greift zeitlich weit hinter die Klassik zurück. Daß wahr sei, was zutreffe, ist dabei nichts als eine billige Tautologie; es kommt dabei so wenig eine wahre Aussage heraus, wie Ihr Statement auch nur in Spuren richtig ist, der Pop sei tönende Moderne: Er gerade ist ein Rekurs auf die Klassik, tonaler Rekurs, die Klänge sind lauter abgelegte Bastarde und haben mit Moderne nun überhaupt nichts zu tun, fallen weit hinter Wagner zurück, ohne doch auch wenigstens kompositorisch mit Mozart gleichzuziehen; von bachscher Konstruktionskunst will ich besser ganz schweigen. Nicht von ungefähr hat Pierre Boulez, popbezüglich, ausgerufen: „Meine Güte, wie primitiv!” Moderne in der Musik findet anderswo statt; interessanterweise vollzieht auch sie unterdessen einen Regreß, aber nicht in die Klassik, sondern in die Gregorianik hinein, und erklimmt von dort aus, auf anderem, auf mit den Erfahrungen der Moderne gesättigtem Niveau, die nächsten Ebenen.
    Gegenüber der Klassik erhebe ich den Vorwurf der anthropozentristischen Verfälschung; „anthroprozentristisch” insofern, als Menschenbilder auf um-idealisierende, geradezu PR-gemäße Weise erfunden und damit geprägt werden; es kommt dem keine Wirklichkeit zu (mit Schopenhauer ziehe ich das Wort „Wirklichkeit” dem Wort „Realität” entschieden vor: als nämlich das, was wirkt). Darin scheint mir die „Klassik” eine ähnliche Wirklichkeitsverschiebung maniplativ durchsetzen gewollt zu haben wie der sogenannte Kommunismus. Zur von Ihnen so genannten Moderne gehört für mich eine Verfälschung, die den Menschen gerne „gerade” haben will. Wir sind aber krumm, wir sind ambivalent, wir atmen rundweg aus der Uneindeutigkeit; die Forderung nach politischer Korrektheit – sagen wir’s, wie’s ist, nämlich US-amerikanisch sektierend: political correctness – streckt den Menschen aufs Prokrustesbett, und ganz gewiß: dabei mache ich nicht mit, auch dann nicht, wenn sich das mit „Klassik” verbrämt. Obwohl ich, je älter ich werde, um so mehr Achtung vor und manchmal auch Liebe zu Goethe habe. Es kommt bei Prokurstes immer nur Unglück heraus. Vergessen Sie nicht, daß an unmenschlichen Ungeheuerlichkeiten kein Zeitalter zuvor so groß und auch erfinderisch gewesen ist wie die Neuzeit; das angeblich dunkle Mittelalter ist dagegen geradezu ein Hort von Ruhe und Sanftheit gewesen. Hexenprozesse, Dreißigjähriger Krieg, Faschismus und „Kommunismus”, Holocaust und Gulag, die auf die Zivilbevölkerung sich fokussierenden Weltkrieg, die Menschenrechtsverbrechen der US-amerikanischen Kriege, schließlich Guantánamo – alles Erzeugnisse einer Neuzeit, die ihre stabilste Blüte in der Klassik hatte und ihre Berechtigung aus ihr bezieht.
    Zum zweiten, unser eigentliches Thema, kann ich gerade im Kammerherrn n i c h t erkennen, daß dort erzählte werde, wie ein Staat Dauer bekomme; genau das Gegenteil ist der Fall. Das läßt sich sowohl semantisch als auch an der Konstruktion zeigen. Zum einen, das vielleicht Wichtigste, ist Danaë dort mitnichten eine klassische, sondern eine heidnische Figur, gelesen von den Augen der Romantik: undenkbar für den klassischen Feudalismus, daß eine Prinzession nackt übers Land reitet – weißGöttin ist das eine sehr weltlich-erotische, eben heidnisch-erotische Feenfigur. Und dann, meine Güte, Zeus selber… der einzige allenfalls, auf den, was Sie schreiben, zutrifft, ist der Graf Godoitis. Dies jetzt nur die erzählerische Seite. Aber gerade die Konstruktion des Roman zerbricht schließlich, verliert die Balance, verliert sie an der einsetzenden kleinen Revolution, der Niebelschütz in Band vier schließlich nichts anderes entgegenzusetzen weiß, als eine so liebevolle wie – sic! – romantische Beschwörung aus dem Himmel fallender rosa Putten – das endet ja ganz ratlos und endet mit einer Vorausschau auf einiges von dem, was wie heute politisch-moralisch h a b e n, ohne daß es aber zeigte, wie denn das „Alte” – bedingte Alte, nämlich im Feudalismus bedingte – mit Recht zu halten gewesen wäre. Es ist schon deshalb nicht zu halten, weil Zeus Wutanfälle hat und dann eben Vulkane ausbrechen. Wiederum die Kinder der Finsternis sind schon stilistisch nicht klassisch; im Gegenteil ist das Buch derart offenbar dem Expressionismus verpflichtet, daß man es einem verspielteren Döblin zuschreiben könnte. Das Interessante, für mich, ist nun die Kombination beider Bücher, durch die der Riß, der die Moderne begleitet, unübersehbar hindurchgeht.

    Ein kurzes Wort noch zu Heide & Idiot: Ein Idiot ist der Reichsgraf ganz gewiß nicht, schon sein Gelächter feit ihn. Und wann Elvis Presley den Menschen das Feuer gebracht habe – und was er überhaupt an existentiell Bedeutendem gebracht habe, außer daß man, wenn man nicht aufpaßt, aufs Scheußlichste fett wird im Alter – das, lieber Herr Thiele, will mir auch nicht deutlich werden; Sie werden ja nicht allen Ernstes die meinthalben mythische Popularisierung des Rock’n Rolls mit dem evolutionären Sprung vergleichen willen, die die Handhabung des Feuers für unsere ganz Art bedeutet hat, und zwar jenseits der Kulturgrenzen.

    1. Zwei Dinge Zwei kurze Dinge, lieber Herr Herbst, fühle ich mich bemüssigt, Ihnen ins Poesiealbum zu schreiben:

      Erstens, Ihre Klassikschelte betreffend, sie, die Klassik, würde den Menschen in einer Masslosigkeit hochweihen, dem er selbst dann nie entsprechen könne. Allein der Versuch steigerte ihn zwangsläufig zu einem Monster.

      Ich wende ein: Alle klassische Kunst hat die Darstellung des möglichen Meschen zum Ziel. Den Menschen, wie er sein könnte, wie er wünschenswert wäre. Wie der Mensch tatsächlich ist, interessiert die Klassik nur als Entgegensetzung zu ihren Idealen. Der Konflikt zwischen Ideal und Wirklichkeit ist immer kunstfähiger, als der zwischen Wirklichkeit und Wirklichkeit (Naturalismus) oder Ideal und Ideal (Romantik). Er überhöht und intensiviert das Leben; das Schöne kann dem Klugen und Tiefblickenden vermählt werden. Es ist kein Vorwurf, den Sie der Klassik machen, es ist ihr Prinzip, das Guteschönewahre herzustellen.

      Sodann: Alle Klassik zeichnet aus, dass in ihr ein lebendiger Menschheitsbegriff herrscht. Menschheitlich zu denken, anstatt partikular, war in den Epochen der Klassik leichter möglich und ausser ihnen schwer. Sie finden das bei den Griechen, wie auch bei den Elisabethanern, im kleinen Weimar und in der noch kleineren DDR. In diesen Epochen, sage ich, leuchtet am Menschen auf, was an ihm liebenswert sein könnte.

      Schliesslich: Was ist schlecht am Anthropozentrismus? Wen wollten Sie stattdessen in die Mitte setzen? Den Dschungel? Oder wollen Sie das Zentrum gleich ganz abschaffen? Das gibt es ja auch, die Befürworter des Nebeneinander. Sie wissen allerdings, dass das gar nicht geht. Den Menschen aus dem Zentrum denken, das kann niemand. Weder kann man ihn unvorhanden, noch ausser sich denken, dann man ist ja selbst immer derjenige, der dieses denkt und ist also als Beobachter und Schöpfer seines Standpunktes immer: zentral vorhanden.

      Der Mensch war immer auch ein Monster; es ist falsch, anzunehmen, die Moderne hätte auf diesem Gebiet eine besondere Steigerung bewirkt oder gesehen. Das ist nur eine Frage der Wahrnehmung. Wir wissen einfach über das unmittelbar zurückliegende Elend besser Bescheid. Die Klassik hat mit dem Monströsen nur das zu tun, dass sie unternimmt, es an einer erstrebbare Alternative zu messen. Unerachtet dessen, dass ich nichts Schlechtes darin erblicken kann (es ist ja auch das Grundprinzip jeder Erziehung), hat sich das Verfahren als äusserst kunstförderlich erwiesen. Und das allein sollte uns versöhnlich stimmen.

      Zweites Ding: Pop. Ich mag da nicht viel zu sagen, aber ich verspreche Ihnen demnächst einen kleinen Artikel über den Fortschrtt in der Musik. Was Sie vom Pop sagen: Dass er primitiv sei (Eisler bevorzugt das Attribut dumm), lasse ich als grundlegend richtig hingehen. Dass er auf melodische Figuren zurückgreift, die aus der Klassik kommen, ist ebenso teilweise wahr; seine Harmonien hingegen sind eher trivialisierte Romantik. Aber das sind alles formale Kriterien: Was Thiele meint, betrifft den Inhalt. Und da stimmen sie beide doch schön überein: Pop ist tönende Moderne, ich übersetze: Dummheit.

      Es gibt daneben ein kleines bisschen musikalischen Fortschritt im Pop, ein ganz klitzewenig im Rhytmus und gar nicht so wenig, was die bewusste Formung der Klangfarben betrifft. Freilich ist das mickrig, vergleicht man es mit den Fortschritten, die sich durch die wohltemperierte Stimmung und die Erfindung des Symphonieorchesters ergeben haben, aber es wäre dennoch ungerecht, das für ganz und gar unvorhanden zu erklären. Wie gesagt, ein paar ausführlichere Zeilen dazu demnächst.

    2. Liebe Frau Eff, ein paar Antworten auf >>>> Ihre schöne Einlassung:

      … die Klassik, würde den Menschen in einer Masslosigkeit hochweihen, dem er selbst dann nie entsprechen könne.So schrieb ich das nicht und schon gar nicht dieses: Allein der Versuch steigerte ihn zwangsläufig zu einem Monster – allein, weil „Monster” ein Begriff ist, den ich auf gleich-welchen-Menschen nie anwenden würde. Mir ist viel zu bewußt, wie geprägt wir sind, und daß selbst, ob und inwieweit wie uns verändern können oder nicht, von solchen Prägungen abhängt, bei denen die Genetik ganz sicher nicht den Trittbrettfahrer spielt. Auch Maßlosigkeit hat sicher nicht meine Kritik, zmal sie der Klassik, nicht etwa mir unangenehm ist. Ich mag Räusche, ich mag Ausfälle, ich will nicht in einer permanenten Form leben, auch dann nicht, wenn ich meine, sie mir selbst gegeben zu haben.Alle klassische Kunst hat die Darstellung des möglichen Meschen zum Ziel.Wohl wahr. Nur wer s e t z t, was ein möglicher Mensch sei, welche Moralen greifen. Unsere ethischen Vorstellungen sind kulturell höchst verschieden, so auch das, was wünschenwert (für w e n wünschenswert?) sei.Der Konflikt zwischen Ideal und Wirklichkeit ist immer kunstfähiger, als der zwischen Wirklichkeit und Wirklichkeit (Naturalismus) oder Ideal und Ideal (Romantik).Gar keine Frage, aber das ist keine klassische Position, vielleicht auch keine romantische: der Hinblick auf Kunst-als-ein-Ziel scheint mir der Klassik ganz unverwandt zu sein; stattdessen steht es dem l’art-pour-l’art-Gedanken der frühen „klassischen” Moderne näher.…es ist ihr Prinzip, das Guteschönewahre herzustellen.Darauf mag ich jetzt nur mit – dem klassischen, nicht dem von Marlowe – Mefistofele antworten: ein Teil von jener Kraft…Menschheitlich zu denken, anstatt partikular, war in den Epochen der Klassik leichter möglich und ausser ihnen schwer.Wie bringen Sie diese Aussage mit den Haltungen des Dalai Lama überein, der nun ganz sicher nicht in „Klassik” zu situieren ist; insgesamt ist der asiatische Raum ein guter Bezug auf ein ganz anderes Verständnis von Menschlichkeit, als wir ihn über Christentum, Renaissance und Klassik vermittelt haben. Im übrigen finde ich am Menschen n i c h t nur das liebenswert, was sich in den klassischen Harmoniegedanken fügt. Im Gegenteil, ich liebe die Ausfälligkeiten des Menschen, ich liebe vor allem seine Gier, sowohl in Sexus wie in der Entdeckungslust, ich liebe seine Leidenschaften, die immer, immer, immer nmäßig sind. Sonst wären es keine. Kurz: Ich liebe den Menschen als Einzelgeschöpf, ich liebe die Leistungen, die Hoffärtigkeiten des Einzelnen, ich liebe die Überhebung, die sowohl so etwas wie den Tristan wie den Ulysses zuwegebrachte.Was ist schlecht am Anthropozentrismus?An ihm nichts. Aber daran, wie Anthropologie begründet wird, also die gesetzten Werte, die behaupten, was Mensch sei. Vieles daran, wenn „befolgt”, führt zu Verdrängungen; das Verdrängte kehrt aber wi(e)der, und meist an schlimmem Ort.Oder wollen Sie das Zentrum gleich ganz abschaffen?Das muß ich nicht abschaffen, weil es „das” Zentrum schlichtweg nicht gibt und weil das, was geschieht, ohnedies evolutionären Geschehen folgt, über die wir gar keine Verfügung haben und auch nicht haben könnten.Den Menschen aus dem Zentrum denken, das kann niemand.Ihn da herauszudenken liegt mir völlig fern; nur sollte man ihn in all seinen Möglichkeiten denken und nicht nur in dem, was die Klassik meinte und/oder wollte, daß er’s sei.Und das allein sollte uns versöhnlich stimmen.Ich bin mit der Klassik gar nicht in Zwist, vieles an ihr liebe ich, aber ich relativiere sie auch. Auf die krasse Anti-Klassik hat mich André Thiele hindefiniert, also wohl mein Werk dort hindefiniert. Ich spiele das aber gerne mit, weil es ein feines Gespräch ermöglicht. Außerdem liegt es meinem Naturell (und schmeichelt ihm… ja, ich bin g e r n e eitel), den advocatus diaboli zu spielen.…seine Harmonien hingegen sind eher trivialisierte Romantik.Da haben sie recht, da lag ich eher falsch.Pop ist tönende Moderne, ich übersetze: Dummheit.Das bedeutete, daß die Moderne dumm sei. Was ich nicht finden kann. Idealistisch betrachtet, ist sie so dumm wie die Vergangenheit und diese so dumm wie sie. An unseren moralisch/intellektellen Grundkonditionen hat sich nicht viel geändert; um es unterm Strich zu sagen: ein jeder von uns will sein Überleben sichern und das seiner Kinder. „Natürlich” gesehen ist das vernünftig.…was die bewusste Formung der Klangfarben betrifft.Vergleichen Sie das mal nur mit Messiaen. Aber Sie schreiben’s ja selbst:Freilich ist das mickrig, vergleicht man es mit den Fortschritten, die sich durch die wohltemperierte Stimmung und die Erfindung des Symphonieorchesters ergeben haben, aber es wäre dennoch ungerecht, das für ganz und gar unvorhanden zu erklären.Unvorhanden ist es nicht, das mag ich nicht bestreiten. Spannender aber auch hier etwa im Jazz. Wie gesagt, ein paar ausführlichere Zeilen dazu demnächst. Auf die ich wirklich gespannt bin, die ich sehr sehr gerne lesen möchte und vielleicht auch kommentieren werde.

    3. Sinn und Unsinn So schrieb ich das nicht(…)

      Ich hatte, als sie vom Prokrustesbett redeten, den Eindruck, sie würfen der Klassik vor, sie würde den Menschen ihrem eigenen Zuschnitt gemäss, nun eben: zuschneiden wollen. Und wenn man die Klassik, insonderheit Schillers Oden, ansieht, dann muss man von diesem Zuschnitt den Eindruck erhalten, er, darf ich „überweihen“ sagen?, er überweihe den Menschen. Aber gut, lassen wir diesen Vorwurf, den ich wohl missverstanden hatte und widmen uns dieser interessanten Frage:

      Nur wer s e t z t, was ein möglicher Mensch sei, welche Moralen greifen. Unsere ethischen Vorstellungen sind kulturell höchst verschieden, so auch das, was wünschenwert (für w e n wünschenswert?) sei.

      Die Frage nach dem „Wer“ kann ich Ihnen im Handumdrehen beantworten: Der Dichter. Er ist der Schöpfer, er hat seinen Anspruch; den nämlich an sich selbst und den an die Gesellschaft, i.e. sein Publikum. Was Sie sagen wollen, ist: Sind diese Setzungen annehmbar? und vor allem: Sind sie universell? Auch hier sind die Antworten zunächst einfacher, als man meinen sollte: Ob das Ideal eines Dichters von der Gesellschaft angenommen wird, ob er tatsächlich etwas Erstrebenswertes beschreibt, ersieht man an dem, was die Menschen handelnd suchen ins Werk zu setzen. Indem wir handeln, sagt Hacks, begrenzen wir ein Ideal; indem wir dichten, füge ich hinzu, erweitern wir es. Zwischen diesen Polen handelt sich die Bedeutung eines Ideals aus. Diese Regel gilt überall, unabhängig von geltenden Normen und wirkender Kultur. Diese legen nur ihren speziellen Inhalt fest. Mit anderen Worten, überprüft wird jedes dichterische Ideal am Menschen und seinem konkreten Handeln. Es ist der Klassik eigentümlich, Ideale aufzustellen, von denen sie behauptet, sie seien menschheitlich relevant. Nicht in dieser Kultur, oder jener; nicht raumzeitlich begrenzt, sondern einen Bogen durch alle Zeiten und alle Kulturen schlagend. Die Klassik will in der Kunst, was Hegel später dann in der Philosophie wollte: Allgemeine, gültige Bewegungsformen, in welcher die Lebendigkeit der Welt dennoch erhalten bleibt. (Ich vermute sowieso, dass die Themen der Philosophie immer zuvor in der Kunst angekündigt werden. Philosophie ist ordnende Nachbetrachtung.)

      Man kann es auch anders ausdrücken: Die Klassik will sinnvoll sein. Diese grossen, Kultur und Zeit durchspannenden Bögen, ich könnte auch sschreiben: Systeme, das ist Sinn. Sinn zu finden ist ungeheuer befriedigend. Deshalb befriedigt die Klassik. Sie begnügt sich nicht mit Bedeutung, sie will das grosse Ganze, sie will Sinn.

      Nun kommt der Mensch der Moderne, um einzusprechen: Es gibt keinen grossen Sinn mehr, hat es wahrscheinlich nie gegeben, alles sei zersplittert in einander widerstreitenden Ansichten, von denen eine jede etwas für sich habe und also wäre in Wirklichkeit durch und durch zerrissen, was die Klassik als Einheit kaschierte.

      Dem halte ich entgegen: Ach, lieber Mensch der Moderne, da dünken Sie sich wohl sehr schlau, nicht wahr? Aber glauben Sie allen Ernstes, die Klassiker hätten nicht gewusst, wie zerscherbt die Welt sich dem Harmoniesuchenden darbietet? Glauben Sie, neunmalkluger Bedeuter des Offensichtlichen, Sie wüssten irgendwas vom Leben oder gar von der Kunst, weil sie ihre Mängel als immerwährend und ihre Widersprüche als unüberwindbar bezeichneten?

      In Wahrheit ist die Klassik eine produktive Weise, mit eben dieser Welt umzugehen. Niemand soll mich glauben machen, die Welt wäre einmal einheitlicher, unschuldiger, verständlicher gewesen. Sie war zu jeder Zeit gleich schwierig und es war immer eine Höllenanstrengung, da einen Sinn hineinzudichten. Der Unterschied zwischen Klassik und Moderne ist recht eigentlich dieser: Die Klassik hat die Mühen angenommen; die Moderne geht ihr aus dem Weg. Ich sage nicht, dass die Moderne sich keine Mühe gibt, aber sie gibt sich keine Mühe, Sinn zu schaffen. Die Sorte Dummheit habe ich gemeint. Unzweifelhaft ist das ein Regress, aber ebenso unzweifelhaft einer, der zu einem neuerlichem Bestreben nach Vereinheitlichung, nach System und Sinn, zu Klassik also, führen wird.

      Komme ich zu dem, dessen ich Sie, lieber Herr Herbst, verdächtigen will: Ich zeihe Sie einer gewissen Zögerlichkeit im S e t z e n, insbesondere dessen, was der Mensch sei. Vielleicht sollten Sie ein bisschen Hegel schmökern. Im Grunde hat er mit Ihnen gemein, dass er das Setzen als eine Willkür entlarvt, aber er überschreitet diesen Standpunkt, indem er sagt, dass das Setzen dennoch unverzichtbar, ja denknotwendig sei. Damit ist er im Übrigen auch Nietzsche voraus, der zwar allerliebst den ersten Teil des Gedankens, d.i. der Willkür jeglicher Setzungen, ausschmückt, aber den letzten nicht denken kann. Vielleicht hätte er es ja eines Tages verstanden, wenn er nicht vorher wahnsinnig geworden wäre. Man muss eben immer den richtigen Zeitpunkt, selbst für den Wahnsinn, abpassen.

      Es ist jedenfalls ganz einfach, etwas zu setzen. „Edel sei der Mensch, hülfreich und gut!“, das geht doch glatt von der Zunge. Klar, wenn der Mensch den Dichter akzeptiert, dann fängt er an, sich zu recken und zu rühren und merkt alsbald: Irgendwie gelingt es nicht, edel, hülfreich und gut zu sein. Tatsächlich schleicht sich diese unbequeme Selbsterkenntnis dann vielleicht als narzisstische Störung ein oder als vollkommene Resignation. Soll er deswegen verzichten? Soll er in der Auffassung verharren, der Mensch wäre schon auf eine Weise irgendwie und verhielte sich ja auch so, dass es im Wesentlichen ohne grössere Pannen abginge?

      Erstens, die Pannen passieren so oder so. Und zweitens, was ist das für ein Leben, das „pannenlos“ über seine eigene Bühne gebracht werden solle? Die reinste Apologie der Blödheit. Was sollte Kunst in einer solchen Gesellschaft. Genau: nix. Und so ist es auch. Nie hatte Kunst so eine marginale gesellschaftliche Funktion, wie heute. Ihr wird kein Anspruch zugestanden und, was schlimmer ist, sie markiert, als Spiegel dieser Situation, nichtmal mehr selber einen. Sie fertigt schöne Gegenstände für den Kunstmarkt. Mehr soll sie nicht. Und mehr will sie auch nicht mehr. Das, des bin ich sicher, wird sich wieder ändern.

    4. Ich sage nicht, dass die Moderne sich keine Mühe gibt, aber sie gibt sich keine Mühe, Sinn zu schaffen.

      Doch, doch: Sisyphos rollt seinen Felsen weiter, weil er genau das erreichen will.

  3. Schöner Disput. Er wird, so hoffe ich, noch fortgesetzt. Eine Anmerkung am Rande: So sehr ich die Veröffentlichung auf beiden Seiten verstehe, für eine Diskussion oder Kommentierung ist das leider hinderlich, da es sie spaltet.

    1. meine Audio-Anlage von Braun samt Plattenspieler ist ein Klassiker und macht Sinn. Baujahr 1974. Es gab zu allen Zeiten Klassik und Moderne, moderne Klassiker und klassische Moderne, ebenso mein Eames-Stuhl. Einzig Qualität zählt und haltbarkeit. Ist Salinger keine Klassik?
      Also was soll die Unterscheidung?

      verzerrtesWort: Soelk

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