Paul Reichenbach am 15. Juni 2010. Leben mit Schmerz und der frühe Lukács

„Das Leben“, schreibt Georg Lukács 1911 in Die Seele und die Formen,
„hat niemals einen Platz in einem logischen Gedankensystem, und so betrachtet, ist sein Ausgangspunkt immer willkürlich und, was es aufbaut, nur in sich geschlossen und aus der Perspektive des Lebens nur relativ, nur eine Möglichkeit. Es gibt für das Leben kein System“.
Nach zwei Bandscheibenoperationen und einer tiefen, schwarzen postoperativen Depression, die, gegen meinen Willen, trotz täglich 25mg Antidepressiva, einfach nicht beherrschbar ist, melde ich mich heute einmal. Die vergangenen 6 Monate mit wochenlangen intervallartigen Schmerzen, deren Ursache mittels mikrochirurgischer Messer beseitigt worden sind, gingen so hin. Winter, Frühjahr, Sommer, es ist einerlei, nahmen und nehmen meine Sinne zwar wahr, allerdings ohne die Reize der Jahreszeiten zu reflektieren. Unfähig zu jeder kommunikativen Geste nach „Draußen“ und ohne jede wirkliche Anteilnahme, schleppe ich mich seit Ende April ins Büro. Ist es doch egal, wie und auf welche Weise die Zeit vergeht und mit der stillen Hoffnung, dass der betroffene Nerv, der organisch keinen Grund zu Weh und Schmerz mehr hat, endlich sein Gedächtnis verliert. Das System „Paul“ ist zusammengebrochen, ja hat sich aufgelöst. Eine absolute Müdigkeit und Desinteresse regieren Emotionen und Verstand. Dem können nur kommende Zeiten abhelfen, so scheint es. Gestern war ich seit Januar zum ersten Mal mit dem nötigen Bewusstsein in meinen Postfächern. Ich danke allen, vor allem ANH, die mir in den letzen Monaten und Wochen gemailt oder versucht haben mich telefonisch zu erreichen. Es ist kein böser Wille, wenn Reaktionen darauf von mir ausgeblieben sind. Aber was soll unsereins schon antworten, wenn keine Antworten in Einem sind. Wo attackierender Phantomschmerz, Konzentrationsschwäche und einhergehende Gedächtnisblockaden den Alltag bestimmen, gibt es momentan keinen Raum für Kommunikation in Augenhöhe, die ohne dieses Maß ja auch sinnlos wäre. „Es gibt für das Leben kein System“.

7 thoughts on “Paul Reichenbach am 15. Juni 2010. Leben mit Schmerz und der frühe Lukács

  1. Es freut mich, von Ihnen, trotz allem, zu hören. Ein Ausgeliefertsein, wie es Ihnen widerfuhr und noch -fährt, macht dieses „Systemlose“ noch drängender fühlbar, und ein Hineinfallenlassen ins scheints Unabwendbare ist vielleicht nicht die schlechteste Vorgehensweise gewesen, wenn Zeit und mit ihr Vergessen einerseits und Erwachen andererseits als leiser Hoffnungsschimmer am Horizont dämmern.

    Lassen Sie die Augen noch geschlossen, Sie sehen auch so gut.

  2. Natürlich freue ich mich über Ihr Lebenszeichen, werter Herr Reichenbach. Sehr sogar. Obschon Sie selbst es wohl nicht als solches empfinden. Und möchte Ihnen nicht mit Worten lästig fallen, die das Gespinst, in welchem sie sich derzeit befinden, vermutlich kaum durchdringen können. Dennoch ist es mir inneres Bedürfnis, Ihnen meinerseits ein Lebenszeichen hierzulassen – ein echtes, weil von mir so empfundenes.

    Ich kenne Zustand, wie Sie ihn beschreiben; erlebte ich doch ebenfalls mal ein ganzes Jahr in solchem Kokon und verbrachte diverse Jahre danach mit dem Abwickeln verstrickenden Fadens. Eine äußerst mühsame Aufgabe, die sich das Bewusstsein niemals freiwillig als Herausforderung suchen würde. Rückblickend überlege ich zuweilen, ob sie nicht abzukürzen gewesen wäre. Denn auch wenn sich der Weg aus heutiger Sicht gelohnt hat – die Erinnerungsspuren bleiben. Und schmerzen von Zeit zu Zeit höllisch.

    Doch jedesmal, wenn mich derlei Gedanken und Phantomschmerzen (so es denn welche sind) am Wickel haben, komme ich zum selben Ergebnis: Gar nichts ließ sich abkürzen, auch nicht erleichtern. So und nicht anders musste die Wegstrecke verlaufen und in jedem Abschnitt bewältigt werden. Denn: Zu groß ist die Landschaft, in der ich heute lebe, als dass ich sie mit dem vertrauten Rüstzeug von ehedem hätte besiedeln können.

    Ich mag Nietzsche nicht, mochte ihn noch nie. Aber ungeachtet dessen hatte er in einigen Belangen sehr einsichtigen Verstand: Zu dem werden, der man ist, erfordert Schutt und Asche jenes, von dem man gewohnheitsmäßig annahm, dass man dieser sei. Schutt und Asche sind kurzfristig die Hölle, langfristig jedoch ein Geschenk. Welches man erst als solches erkennen und annehmen kann, wenn sich neues Leben geboren hat. Es ist ein langer Weg herab vom Berg der Eitelkeit in fruchtbare Auen.

    Mir ist bewusst, dass dies eine dschungelungehörige Aussage ist. Jedoch bin ich schon zu lange unterwegs und habe selbst zu viel erlebt, als dass ich dem Trommeln eines wilden Wäldchens Gehorsam zollen wollte. Halten Sie einfach durch – Schrittchen für Schrittchen, wie vernebelt und düster der Weg auch sein mag. Die Luft wird sich klären, ganz sicher. Nicht morgen, auch nicht übermorgen. Weil so langsam, dass Sie den Landschaftswechsel erst registrieren werden, wenn er trotz allen Grauens im Erinnerungsgepäck nicht mehr zu leugnen ist. Es werden Ihnen kleine hilfreiche Wunder begegnen, die Sie vermutlich erst nachträglich als solche erkennen. Und auch solche, die Ihnen wie weiterer Genickschlag vorkommen mögen. Gebären – insbesondere sich selbst neu – war noch niemandem leichtes oder auch nur als zumutbar empfundenes Unterfangen. So eine erwachsenes Ei ist verdammt harte Nuss.

    „Dem können nur kommende Zeiten abhelfen, so scheint es.“
    Wenn es Ihnen derzeit auch nur so scheint, genau so ist es und wird es sein. Jeder Tag, wie grau und sinnlos auch immer, ist ein Schritt in Richtung wirkliches Selbstsein. Da wartet ein weites, grünes Land auf Sie. Brauchen Sie mir nicht glauben (ich hätte es vor Jahren auch keinem geglaubt, weil nur als billigen Trostversuch aufgefasst) – ich sage es Ihnen trotzdem. Vielleicht dient Gesagtes ja nur in winzig kleinem Moment, dann war es in diesem nicht umsonst gesagt. Bei mir begann der Geburtsprozess übrigens auch mit einem doppelten Bandscheibenvorfall, zu dem sich noch weitere Maleste gesellte. Die Wirbelsäule hält uns aufrecht – in unangemessenem wie richtigem Leben. Demnach naheliegend, wenn sie beim Transfer vom einen ins andere vorübergehend Dienst versagt, um gewohntes System in die Knie zu zwingen.
    Ich grüße Sie von Herzen.
    Sun-ray

  3. Lieber Nicht-Paul! Wie schön, Dich wieder mal zu lesen, wenn auch erst jetzt, da auch mich das Leben momentan ziemlich beutelt.
    Lass ihm Zeit, dem Paul,die Zeit, die er braucht. Und sollte er Dir unverhofft begegnen unterwegs, grüß ihn von mir.

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