MS Astor, oberes Achterdeck.
32º11‘ N/13º29‘ W.
Kurs 26º NO.
Tief verhangen, böig, sehr einsam und dünn ein westliches Blau:
wie eine Ahnung.)
Santa Cruz de Tenerife war, wie seinerzeit Valencia gewesen, eine Überraschung. Noch hatte ich, als wir Punkt acht Uhr morgens anlegten, mein Vorurteil parat: Touristeninsel usw., wollte also gar nichts sehen, sondern mich sofort zum nächsten Taucherstandort aufmachen, war tatsächlich als erster von Bord, grad mal fünf nach acht, und schritt beeilt die Hafenlinie südlich entlang, merkte aber schnell, daß die Stadt zu groß war, vor allem der Hafen zu langgestreckt, um fündig zu werden. Anstelle indes umzukehren, schritt ich weiter auf ein architektonisches Gebilde zu, das mit einem Schweifpfeil lockte und unterhalb eines Hügels liegt, über den sich, wie ich dann erfuhr, der Botanische Garten hinzieht. Das Gebilde ist, futuristisch leicht, die – Konzerthalle. Führt mich mein Weg als erstes zu einer solchen, hat eine Stadt imgrunde gewonnen. Und diese mußte sich nicht anstrengen, ihren kleinen Erstsieg zu halten.
Dennoch schritt ich um den Botanischen Garten noch herum, fand dahinter, ausgedehnt, eine nächste Hafenanlage, ein Frachter lag am Kai, den oben, wo ich ging,ein Drahtzaun versperrte, der aber einen Durchschlupf hatte. Auch Durchschlupfe, immer, sind mir sympathisch. Unten, auf der hier hellblauen See, schaukelten zwei Fischerboote, und ein älteres Paar schlupfte durch den Durchschlupf durch, nahm sich an den Händen und stieg den Weg zu den Booten hinab. Zum Land hin eine befahrene Zubringertrasse, gleich dahinter, utopisch verwinkelt, Silos und runde Tanks wie Perry Rhodans Kugelraumer, zu denen eine hohe Mauer zugleich hochführte, wie sie sie doch sicherte. Hier erst kehrte ich um, nahm aber nicht den Weg zurück in die, so war uns gesagt worden, von unserem Kai aus nahe Innen-, bzw. Altstadt, sondern stieg in die Besiedlung der Santa Cruz umhegenden Lavahügel auf und folgte erst oben den Schildern auf den Centro Ciudad. Blieb immer wieder stehen, war immer wieder erstaunt über die freizügige, gebunden-losgelassene Fantasie der zwischen die älteren Häuser gesetzten modernen Architekturen, Kongreßhalle, auch Uni, das war alles überhaupt nicht museal. Immer wieder wirklich Plätze, Augenraum und Weiten, obwohl Santa Cruz nicht wirklich groß ist. Die in den Straßen liegende Stimmung war, sagen wir, grad erst aufgewacht, jetzt um fast schon neun Uhr dreißig. Und als ich um zehn – zwei Stunden etwa nach meinem Aufbruch – in der Innenstadt tatsächlich ankam, machten grade die ersten Geschäfte auf. Da hatte ich den in einem ausgesprochen geschmackvoll renovierten Art-Deco-Komplex offenen, nur nach Art eines Kreuzgangs an seinen Rändern überdachten Markt entdeckt; auch hier baute man grade erst auf. Allerdings Gemüse wurden bereits eifrig gereicht und bezahlt. In die Kreuzgangswände sind kleine Geschäfte eingelassen, Käsereien, Bäcker, Schlachter, die toten Hühner baumelten dösend.
P. kam mir, im roten Kostüm, auf einer der Ramblas entgegen, etwas traurig schauend, weil die Crew doch „shoppen“ wollte, aber bereits um elf zurücksein mußte. „Spanien“, sagte ich, „wir sind in Spanien, auch wenn das Afrika ist. Vor zehn/halb elf Uhr morgens geht hier gar nichts.“ Um uns ratterten immer wieder die Gitter hoch, mit denen die Geschäfte sich nachtüber sichern. „Na bitte.“ Ich meinerseits aber auch war auf der Suche; eine Facebook-Nachricht der Familie hatte mich um eine Besorgung gebeten. Doch die obwaltende Gelassenheit ging völlig auf mich über.
Santa Cruz de Tenrife ist gewiß nicht die spannendste Stadt meiner Reise, aber ebenso gewiß ist sie die allerschönste. Das schließt Kapstadt ein, ja Kapstadt wird hiergegen fahl. Wir alle, sämtliche Passagiere, waren uns später darüber einig, wenn auch vielleicht aus verschiedenen Gründen. Ob die Straßen sauber seien – für die meisten tatsächlich ein Kriterium –, hat mich selbst noch nie interessiert; eher bringt sogenannte Sauberkeit eine Sterilität mit sich, die mich nicht nur deshalb abstößt, weil in ihr Correctness zum Ort wird, sondern ich sehe immer David Lynchs abgeschnittenes Ohr im zu gepflegten Rasen. Reinheit ist ein Begriff des Faschismus. Doch hier, in der Tat, waren die Straßen sauber, zugleich aber sorgen die beieinander lebenden architektonischen Entwürfe, ja, sie leben ineinander, für die nötige Phantastik und eine Freiheit, in denen unsere Blicke spazierengehen können; sie verlieren sich nicht in der Gradlinigkeit. Dies wird hier anders erreicht als in Italien, wo das Provisorium ein gewichtiger Teil der Ästhetik ist, sei es von geflickten Mauern, sei es von nicht wirklich alleine aufs Rechteck bemessenen Türen, sondern Santa Cruz ist beherrscht von spanischer Kantigkeit, aber eben einer, die sich nicht neben- sondern ineinander verschachtelt und mit enormem Feingefühl den Barock um den Zweckbau ergänzt. Das ist tatsächlich das Gegenteil von Musealem. Das Alte wird weiterbelebt, anstelle es zum Ausstellungsraum zu vernichten. Nirgends auch nur entfernt das Gefühl von Disneyland oder Veranstaltung, und auch nicht von „gereinigtem“ Bewahren. Das war es, daß man den Atem spürt und nicht die Desinfektions- und Aufhübschmittel, was mich sofort gefangennahm, ja, ich setzte mich abseits der Einkaufsmeilchen in eine Seitenstraße vor ein Café, saß da nur und saß und bedachte die ganze Stadt im Anblick einer Hausecke, um die mal zwei Frauen schlenderten, mal ein Hund strich, dann kam ein Auto. So ging das fort. In aller Ruhe brachte mir der Inhaber meinen Caffè, dann ein Pan con Jamón, ich rauchte, wir wechselten paar Blicke, gegenseitig aneinander auf eine Weise interessiert, die ich sonnenmüde nennen möchte, nicht ihrer müde, sondern so, wie man in einer Hängematte hängt, um sich teils bräunen zu lassen, teils will man einfach nur dösen. Das war es vielleicht sogar eigentlich, was mich so, ja, berückt hat und was mir s o bisher nur auf Sizilien widerfahren ist und davor in der Savanne des äquatorialen Afrikas und zuweilen in Neapel, daß mir diese Stadt die mir eigene Nervosität nahm, meine ständige innere Eile, so daß ich spürte: hier möchte ich bleiben. Ich ward ganz ohne Vorbehalt, wie belohnt. Überdies fand ich Cigarillos, I was running out of my cigars bereits drei Tage zuvor, und man kann sie – bezahlen. Tabakwaren sind unfaßbar billig auf Teneriffa, und nicht nur sie. Auch für Elektronik ist es ein Paradies – und für das Essen. Vor allem aber, eben, für die Augen.
Vieles ist aus Lavastein errichtet, der Vulkan, der Teide, ist nah. Auch das, ganz sicher, faßte mich. Und – die Spache. Ich mag die Härte des Spanischen, seine Entschiedenheit, mag die Kehl- und die gezischten s-Laute, die einem gestoßenen Lispeln ähneln, mag das arabische, besser zu sagen: maurische Element und die Messer der Konsonanten; die Vokale, bisweilen, gleichen Geschossen; aber sie sind locker gespielt, wie aus dem Handgelenk unaufgeregt. Und die Frauen wandeln stolz und grade: Geschlechtsspiel, ernstes, das sich weiß. Zugleich ist Santa Cruz aber, wie sehr ein Afrika auch immer, gesättigt mit Europa, spanisch ganz. Und war, als wir mittags, zu früh! zu früh!, wieder fuhren, umspielt von Delphinen, Hunderten, aber keiner hatte mehr als Männerarmlänge. – Die aber dann, wie nach jedem Hafen, angehende Goodbye-Party, achterdecks, ging meiner Melancholie nun wirklich auf die Nerven. Eine jede tiefere Regung wird mit Rapten der allgemeinen Bespaßung niedergeplättet. So daß ich abends, zum ersten Mal auf diese Reise, einen körperlichen Ekel empfand, vor der, so kam es mir vor, verordneten Banalität, einem unbedingten Willen zur Schlichtheit. Und mich früh zurückzog, weil abermals Disko über das Meer ging. Anstelle, daß man hörte. An schlechter Musik habe ich für meine nächsten zehn Jahre genug; ich werde Monate brauchen, um diesen Brei aus mir wieder rauszukriegen, möchte eigentlich gar nichts mehr hören. Das Problem an schlechter Musik ist, daß man nach ihrem Übermaß auch gute flieht wie stockigen Geruch: Man will nur noch aus dem Raum raus!
(Nicht mal jetzt ist Ruhe davor, da doch der Wind so pfeift; gegen ihn plärren seit soeben die Boxen. Als könnten Menschen mit sich und ihren Gedanken nicht einfach mal alleingelassen werden und jedes Empfinden müßte auf eine Norm gestrichen werden, die keine Besonderung zuläßt. Vielleicht ist aber einfach nur mein soziales Vermögen erschöpft, permanent mit so vielen Menschen zusammenzusein, zumal solchen, die ganz andere Sehnsüchte treiben als mich. In der Berliner Arbeitswohnung bin ich oft über Stunden, manchmal auch tagelang für mich. Zwar, das könnte ich hier ebenso halten, einfach in meiner privilegierten Kabinensuite bleiben; aber seh ich das Meer, treibt‘s mich hinaus, doch dieses nicht empfängt mich, sondern die bespaßende Beschallung, und das bis spät in die Nacht. Heute früh hatte ich zum ersten Mal ein Problem damiut, jemandem „Guten Morgen“ zu sagen. Ich hätte am liebsten überhaupt nicht gesprochen, niemandem auch nur zugenickt.)
Der Summe nach schlimmer, hörte ich nun, habe es einen Passagier in Durban getroffen; dieselbe Technik am Automaten und zwischen Ausflug und Schiff zwanzigtausend verloren. Gleichfalls unversichert. Wiederum Sam, auf Mauritius, war das Portomonnaie abhanden gekommen. Einmal umdrehn und schon weg. Aber auch ich selbst, wenngleich harmlos, ja geradezu witzig, habe mein Denkzettelchen bekommen; nur daß mir das, weil der Schaden so lächerlich ist, beinah gefällt. Ich war ja auch dumm gewesen, da in Durban, wo ich bei einem fliegenden Straßenhändler einen 32er USB-Stick erstand, für umgerechnet zwei Euro. Ich hätte ja mal nachdenken können. Aber das Ding sah so echt aus, eingeschweißt, ScanDisc-Aufdruck, täuschend original. Nun, gestern abend wollte ich das Dingel bespielen, für Katheryna ein bißchen Klaviermusik, die mir nah. Ich reiß also die Verpackung auf, merke noch nichts, stecke den Stick in den Laptop. Keine Reaktion. Seltsam. Ich versuch es noch einmal, dann erst seh ich den Stick mir an. Nichts als Plastik, eine pure Atrappe. Da habe ich laut auflachen müssen. Schon allein die Vorstellung ist irre, wie es da offensichtlich eine ganze Industrie gibt, die sich auf sowas spezialisiert, von Verpackung über Aufdruck bis zur Produktion der Fakes. Ich werde das Dingerl, wieder daheim, in meine Souvenir-Boards legen. Das, mit aller Pfiffigkeit, hat es sich verdient.
Und nun: Europa entgegen. Morgen mittag werden wir in Lissabon einfahren, unter der großen Brücke hindurch.