Aus der Körperwerkstatt (1): PP198, 28. Juli 2014: Montag.

(15.35 Uhr, Mariaheimsuchung.
Station 4, Balkon.)

Hier, in diesem Krankenhaus, allerdings einem älteren Gebäude als diesem – heute Kita neben Hospiz – wurde vor vierzehneinhalb Jahren mein Sohn geboren. Schon deshalb >>>> kam ich gerne hierher. In dem verstreute, architektonisch teils wenig verwunschenen Gebäudekomplex gibt es einen kleinen Zauberpark, der mir aber erst heute früh, als ich ankam, auffiel:

Unter leichtem Nieseln war ich hergeradelt und dennoch zehn Minuten zu früh, so daß ich etwas herumging, –schlenderte ist das richtige Wort. Ich war seltsam unnervös. Aufnahme, Bettzuteilung usw. verliefen gelassen; ich teile mir das helle kleine Zimmer mit einem jungen Mann. Gleich neben dem Zimmer geht ein Balkonchen auf den Zauberpark hinhaus, das ich sogleich als meinen Arbeits- und Leseplatz wählte; dort saß ich nun schon die meiste Zeit:

,
las den >>>> Lawrence nämlich weiter, bis ich hinabgerollt wurde. Liegen sollte ich da, im Bett, was ich nicht einsah: „Ich bin nicht krank“ – ein Satz, den ich heute schon einige Male ausgesprochen habe und den stets eine kleine Irritation beantwortet hat. „Ein Leistenbruch“, sage iuch dann, „ist ein mechanischer Knackser.“ Und setz mich im Schneidersitz ins Bett.
Also die Darmspiegelung. Leider kann ich Ihnen noch kein Bild einstellen: von mir tief untendrin, aber das kommt noch; der junge Assistenzarzt vergaß, es mir wiederzugeben. Jedenfalls habe ich jetzt eine der tiefsten phantastischen Reisen meines Lebens hinter mir, und Sie, die und der Sie eingeweiht sind, wissen, daß es nicht wenige Reisen sind, die ich unternehme.
Anfangs gab es aber ein bißchen Ärger. Ich hatte die Kolo mitschneiden wollen, die Töne mitschneiden, und da war dann eine Krankenschwester mit sehr herabgezogenen Mundwinkeln, bereits chronifizierten, die sofort sagte: „Da muß erst die Pflegeleitung informiert werden.“ Den Rest können Sie sich denken, nicht aber, daß eine ausgesprochen charmante hübsche Dame es war, die mir die Aufnahme schließlich verwehrte. Woraufhin ich: „Sie zwingen einen dazu, unsichtbare Mikros zu verwenden.“ Darauf Sie: „Dann ist das eine Straftat.“ Ich: „Und wenn schon! Hätten sich Künstler je an die Gesetze gehalten, gäbe es gar keine Geschichte der Kunst, schon gar nicht deren Werke.“ Juristisch freilich ist das kein haltbarer Einwand, ästhetisch aber sehr wohl. Deshalb trennten wir uns in einer Mischung aus Sympathie und, beiderseitigem, SichÄrgern.
„Und Sie wollen das wirklich ohne Narkose durchstehen?“ fragte mich der junge Arzt dann, der den Joystick führte. – „Selbstverständlich.“ – Die eine der beiden Schwestern: „Und was sollen wir tun, wenn Sie sagen, Sie halten es nicht mehr aus? Abbrechen oder dann doch betäuben?“ „Wenn ich es sage, dann betäuben, selbstverständlich. Abbrechen tue ich niemals.“ So kam das Ding, ein Eidechsenköpfchen mit zwei weißen glühenden Augen, in meinen Arsch. Seitenlage erst. Und auf dem Bildschirm vor mir, in den auch der Arzt sah, begann meine ungeheure, in ihrer Bildwelt bisweilen rauschhafte Reise. Daß ich mit beiden Schwestern – eine gab auf dem Bauch den Gegendruck, die andere kontrollierte meine Körperfrequenzen und hielt, das war voll einer sehr guten Wärme, meine Hand –, – daß ich mit Ihnen also und mit dem Arzt sprechen konnte, war dabei Reiseführung der sensibelsten Art.
Der, wie es technisch heißt, Gerätevorschub war nicht leicht; mein Darm hat einige offenbar nicht ganz gewöhnliche Schlingen, so daß man immer mal wieder „um die Ecke“ muß. An diesen Stellen wird der Darm etwas mehr gebläht als auf den glatten Strecken, und das, nun ja, tut weh. Stellen Sie sich sehr harte Blähungen vor, die aber nie lange währen, sondern über die man kurzzeitig wegspringen muß. „Geht es noch?“ So immer mal wieder die Schwester. Meist war der Kurzschmerz aber dann schon vorbei, und ich fühlte Entspannung und sagte: „Klar, das ist irre! Machen Sie weiter!“ Allein die Äderung der Darmwand stellt jede Science Fiction in den Schatten zweidimensionaler Strichzeichungen, dazu kommen bizarre, aber organische Strahlen, die sich wie gebogene Pilaster aus Fleisch herausheben, märchenhaften Pforten gleich, teils wie fleischernen Arkaden, die kein >>>> Giger besser hätte formen können; im Gegenteil, man sieht, bei ihm wie Cronenberg, woher er seine Phantastik bezog. Es ist alles in uns. Außerdem sind dieser beiden Künste dunkel; was ich vorhin gesehen, war aber hell.
Nach etwas mehr als einem Meter Schlauch, der sich mittlerweile in mir wand, erreichten wir den Ausgang des Dünndarms, den eine weiche Klappe verschließt, um Rückfluß zu verhindern – nicht wie ein Mund, sondern fast wie eine Tür, eine Art Gegensaugtür. „Wenn sie sich öffnet, da wir nun schon so weit gekommen sind, versuchen wir, auch da einen Blick hineinzutun. Sehen Sie: dort…. Am besten, Sie legen sich noch einmal auf den Rücken.“ Das hatte ich bereits einmal getan, wiewohl die meiste Zeit der Untersuchung die Seitenlage favorisiert wird. Aber wir mußten die Schlingen etwas verlagern. Und die Hände, jetzt beide, der Krankenschwester gingen jede Bewegung der doppelleuchtenden Eidechse mit, tastend, drückend, teils streichelnd, um meine Verkrampfungen aufzulösen. Alleine dies war das Erlebnis wert: diese Form der körperlichen Empathie, zu der die Seele Resonanz war.
Bisweilen sieht man Tümpelchen – „Ganz leer ist der Darm nie“ -, die abgesaugt werden, und schon wieder hat man den Blick auf die grenzenlose Schönheit des Organischen; man begreift unmittelbar das Wunder, das wir sind, wir alle: das unser Körper ist, und momentlang dachte ich: Ach, wäre ich dort A r z t geworden! Auch wenn man sich zwischendurch immer mal wieder krümmt und die Zähne zusammenbeißen muß und deshalb, weil man’s tut, dummerweise zugleich den Bauch zusammenkneift, was es der Eidechs dann richtig schwer macht. „Atmen Sie durch den Bauch… – Sie machen kein Yoga, schade. Da lernt man’s.“ Ging indessen auch ohne. Alles, was wir brauchen, ist Wille, alles andre ist bloß Schmerz. Jede Frau, bei jeder Geburt, kennt ihn anders als in dieser gemäßigten, immer nur phasenhaften Form. Das verpflichtet die Männer. Und hier, ich schrieb es und schreib es noch einmal, wurde ich mit Bildern entgolten, die mich nicht mehr loslassen werden und die ich irgendwie bearbeiten möchte: ihnen die Prosa finden, wenn nicht Poesie.
Alles ohne Befund, übrigens. „Da hab ich wohl auf eine gute Weise ungesund gelebt“, scherzte ich und machte mich sofort, nachdem ich wieder auf mein Zimmer gebracht war, zum Italiener auf, der Körperwerkstatt gegenüber, um einen doppelten Espresso mit ganz ganz viel Zucker zu trinken. Essen, wiewohl seit vorgestern nüchtern, sollte ich noch nicht: „Ihr Bauch ist jetzt ein bißchen überanstrengt, lassen Sie ihm etwas Zeit“ – das war, als hätte der junge Arzt gesagt: „Sein Sie gut zu ihm.“ Und Zärtlichkeiten find ich überzeugend. Außerdem habe ich gerade noch mit ein bißchen Luft zu tun, die das Eidechsenköpfchen, das weißleuchtende, bei mir drinnen hat gelassen. Die will nun raus von Zeit zu Zeit, drückt auch, damit ich sie nicht vergesse. Dann rutsch ich hin und her und hebe die linke Arschbacke an, im Sitzen, um möglichst unbemerkt hinauszulassen, was seine Freiheit ganz wie ich will.
***

Erst morgen wird es weitergehen, wahrscheinlich sehr in der Frühe. Auch die OP will ich bewußt erleben, werde Ihnen auch davon schreiben, aber wahrscheinlich nicht vor dem Mittag.
Jetzt aber wird mit den O-Ton-Protokollen des Kreuzfahrt-Hörstücks weitergemacht. Ich bin ja nicht auf Urlaub hier. Und meine eCigarillos werden immer wunderbarer: Körperwerkstatt hin und her, ich sitze auf dem Balkonchen, tippe und dampfe munter vor mich hin. Überhaupt bin ich munter, ja richtig gut gelaunt. Obwohl ich keinen Mittagsschlaf hatte. Und seit einer Stunde prallt auf mich die Sonne wieder ein, als riefe sie: „Lebe!“ So daß ich gut zu schwitzen beginne und sie es glücklich wiederholt. „Lebe! Lebe! Lebe!“
*****

(21.35 Uhr.)
Ausgelesen:

T.E.Lawrence, Die sieben Säulen der Weisheit. Zitate werden noch folgen, aber lassen Sie mich erst einmal wieder aus dieser Werkstatt heraus sein.

Deren große Güte, übrigens, auch in dem Italiener schräg gegenüber besteht. Ich komme soeben von einem halben Liter Hauswein zurück. Und eines der O-Ton-Protokolle habe ich auch noch geschafft. Jetzt muß ich nur genügend müde werden. Wobei momentan die Freundin meines Zimmernachbarn da ist und mit ihm im Bett liegt. „O“, sagte ich, weil ich das Zimmer betrat, ohne zu klopfen„Verzeihung.“ Und war glückvoll berührt. Hab mich sofort wieder auf meinen Balkon verzogen. Die Vorstellung eines küssenden Paares im Nachbarbett erfüllt mich. Wundervoll. Das Leben findet einen Weg: meinen.

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7 thoughts on “Aus der Körperwerkstatt (1): PP198, 28. Juli 2014: Montag.

  1. Witzig allerdings ist, daß ich nun Penatencreme benutzen muß, “Penatencreme für Babies”, wie die Schwester spottete. Aber nach >>>> all der dünnen Pfeiferei (um 13.37 Uhr im Link) und dann der Eidechse drinnen, weil die halt so einen langen Körper hat, daß sich von einem Schwanz nicht mehr sprechen läßt, ist man da a bisserl wund. Versuchen Sie’s nicht mit Körperlotion, also falls Sie mir diese Phantastische Reise nachmachen wollen, was ich, abgesehen von jener, empfehle. Die – das meint “jene” – brennt nämlich, aber ohne, daß man bildpsychedelisch entschädigt würde. Vielleicht geht auch Gleitcreme. Am besten, jemandes Schwulen fragen. “Jemandes Schwulen” – welch zuckersüßer Doppelsinn!

    1. herbst was sie mir einst zudichten ( möglicherweise dichterisch ) ist selbsthalterisch obstod eines sklven wie eineolet.
      es ging nicht u den

      ( da lebtfrauman genz einfach weiter )

      cest la vie

      skol

    2. @lobster: Komplimente! Sie haben es hiermit geschafft, der völligen Betrunkenheit eine stilistische Form zu geben: Sujet und seine Gestaltung sind e i n e s. Nur wenigen, den wenigsten, Künstlern gelingt das.

  2. Mariaheimsuchung Vor 6 Wochen wurde hier auch meine erste Enkeltochter geboren- und wohnt jetzt in Pankow. Da muss ich unbedingt bald hin. Alles Gute Ihnen. Nach wie vor bewundere ich Ihren Mut.

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