Mit Paulus Böhmer und allerlei Rauhzeug. Das Rückreisearbeits- und Arbeitsjournal des Sonnabends, dem 1. Oktober 2016.


[ICE 76, Frankfurtmain-Hannover
12.38 Uhr]

Extrem voller Zug, demi d’Allemagne scheint auf der Völkerwanderung gen Einheitstag zu sein: Einheit der Familien nebst Zusammenlegung gemeinsamer Auszeit. Aber auch sechs japanische Weibchen trugen schnatternd ihren Teil bei, indem sie nicht wußten, wie untereinander die Plätze ihres reservierten Abteiles belegen, schon weil sie erst recht nicht wußten, wohin mit ihrer gesendlerten Habe. Also verstopften sie, der Nach- und Vordrängenden nicht achtend, überdies des Deutschen sowieso, doch auch keines Englischen mächtig, mit allerlei Lärm den engen Verbindungsgang zum nächsten, bzw. folgenden Waggon, den zwischen den Abteiltüren und der Fensterreihe, von Frankfurt bis ganz Hanau. Von weiter hinten wurden Verzweiflungsrufe laut, sogar paar Drohungen konnte ich hören. Sie hatten ziemlich Glück, diese Frauen, daß sie nicht auch noch muslimisch waren.
In solchen Situaionen ist es am besten, wenn man sich entspannt, auch wenn sich besonders Unruhige unter Überkletterung mancher Koffer und Betretung fremder Füße nach vorne drängen, sprich vordrängeln wollen, was ihnen dergestalt gelingt, daß man, wo eben noch ein wenig Luft war, sie nun rationieren muß. Immerhin kann so keiner mehr umfallen.
Jetzt waren die Japanerinnen drinnen, aber zwei ihrer voluminösen… ja, „Koffer“ zu ihnen zu sagen, wäre euphemistisch, – ihre Rollcontainer kamen einfach nicht nach. Schon aber diese genügten, den Gang unpassierbar zu machen; ihre Besitzerinnen selbst wären gar nicht so schlimm gewesen. Imgrunde stimmt auch „Container“ nicht, sondern es waren (und sind’s noch) Garagen, in denen die fernöstlichen Gäste auch sicher übernachten konnten, falls Die Deutsche Bahn es mit den Verspätungen mal übertrieb.
Womit zur Zeit – also mindestens so lange, wie der Berliner Neuflughafen in Bau – gerechnet werden muß. Japaner sind präzise und bereiten sich darum vor.
Als ich endlich – nach mehreren weiteren Zwischenstops, solchen mit Rastplatzcharakter – den folgenden Waggon erreichte, wurde – und bis ins Bordbistro – jegliche Rede von einem deutschen Geburtenrückgang der allerinfamsten Lügen gestraft; kurz hatte ich sogar den Eindruck, einige werdende Mütter hätten die Deutsche Bahn wegen Überbelegung des klassischen Kreißsaals für eine mögliche Geburtspatin erwogen, weil vielleicht auch sie, diese Mütter ante portas, japanisch zu denken begannen: Wer ein Leben mit auf die Welt bringen hilft (die logische Weiterführung des Inselgedankens, wer jemanden am Sterben behindre), übernimmt die weitre Verantwortung für dieses just gewordene (bzw. nicht beendete) Leben. – Kein wirklich schlechter Gedanke zur Frühalimentation unsrer kommenden Generationen; bekanntlich steigt (aus Sparsamkeitsgründen) die Rentablität eines Beförderungsunternehmens umgekehrt proportional zur gelungenen Einhaltung der Fahrplanzeiten (auch dieser Zug hat wieder Verspätung, gibt der Vorsorge diese Mütter also ganz recht). (Hoffentlich bekomm ich den Anschlußzug in Hannover, aber ich bin ja geburtsfest und werde mir die Zeit ggbf. zu vertreiben wissen; hab schon nach kochendem, wenigstens heißem Wasser und sauberen Tüchern geguckt.)

Jetzt sitze ich immerhin in dem Bistrot und kann auch tippen. Göttinseidank habe ich mein Nettbückerl dabei, das mich daran erinnert, daß heute meine Contessa sich noch mit keinem Wort gemeldet hat; ohne sie gäb’s dieses Bückerl doch gar nicht. Dafür eben – wir jagen durch einen langen Tunnel soeben Kassel zu – ein Anruf aus Sardinien; man möchte gerne meine angefragte Buchung zu Nägeln machen, die auch eingeschlagen sind und nicht nur, wie jetzt noch, im Hause so lose herumliegen, daß man drauf ins Rutschen kommt.
Dafür habe ich selbstverständlich Verständnis, doch wenig Muße, wenn ich standby zur nächsten Geburtshilfe hart auf dem Sprung bin. Also vertröstete ich die Signora auf den späten Nachmittag, bzw. morgen früh; ich riefe, sowie es gehe, zurück; es stünden derzeit-im-Moment jüngste Menschenleben auf dem Spiel. Für sowas haben Italiener Verständnis. Doch in der Tat: Morgen muß ich mich um die übernächste Reise kümmern; bislang steht nur der Hinflug. Am Montag geht es ja schon nach Sizilien.
Gestern statt dessen ging es nach Lorsch. Ich hatte >>>> Phyllis Kiehl versprochen, ihr bei den Umräumarbeiten für das Landatelier zu helfen. Tatsächlich hätten beide Damen, die alte Schamanin Ladybird wie ihre jüngere Tochter, schleppen und wuchten wirklich nicht dürfen. Außerdem waren schnelle Entscheidungen zu treffen, deren Umsetzung mir weniger schwerfiel als ihnen, weil ich an die in Rede und einen leisen Protest, der unbedingt bewahren wollte, stehenden Dinge nicht sentimental gebunden war, um von ihrer Ästhetik einmal besser zu schweigen.
Sowas schlaucht. Es schlaucht sogar so sehr, daß ich auf der Rückfahrt halb schon einschlief – zumal >>>> der Abend zuvor durchaus nicht früh geendet hatte. Es gibt zu ihm übrigens ein Buch, das ich gerne empfehle. Romina Nikolič und Jan Volker Röhnert haben es herausgegeben, und die >>>> edition Faust hat es sorgsamst betreut:


Die Ehrung selbst führte eine kluge, von Björn Jager ausgesprochen sensibel durchdachte Reihenfolge der Gratulanten vor, angefangen bei Frankfurts neuer Kulturderzernistin Ina Hartwig über den Hausherrn des >>>> Literaturforums selbst bis zu Eva Demski, Katharina Hacker, Monika Rinck, Harry Oberländer und Böhmers Sohn Daniel-Dylan, unterdessen politischer Redakteur der WELT. Auch ich selbst trug ein Kleines vor:

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Die Kulturschickeria gab dem Dichter, den sie über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte mißachtet hatte, auf das jovialste die Hand, und er genoß es mit Recht. Daß dies geschehen konnte, ist einer ganz neuen Dichtergeneration zu danken, die seine Größe zu entdecken bereit war und ihn nun hofiert, nachdem sie in die Machtpositionen vorgerückt ist. Für manche Ältre ist das bitter, doch haben sie alle im Keller den Most, den sie den Dichtern abgepumpt, und müssen noch heute deshalb nicht darben, anders als die meisten der von ihnen Geschmähten. Ja sie dürfen die heut sogar loben, nachdem die alle „gegangen“ sind, und niemand haut ihnen dafür auf die Finger – selbst wenn sich durchaus ein Lineal nehmen ließe, weil in der Tat Hautberührung wirklich zu widerlich wäre.

Nun indes habe ich den Auftragstext noch fertigzustellen, den ich gestern morgen zwar begonnen habe, dann aber liegenlassen mußte. Doch wird in einer Viertelstunde erst einmal umgestiegen werden.

[ICE 859, Hannover-Berlin/Gesundbrunnen
15.01 Uhr]

Um sechs dann bei der Familie.

*

2 thoughts on “Mit Paulus Böhmer und allerlei Rauhzeug. Das Rückreisearbeits- und Arbeitsjournal des Sonnabends, dem 1. Oktober 2016.

  1. Das hier übrigens >>>> ist zwar Spam, aber doch – nämlich gerade unter dem entsprechenden Beitrag – ein recht schöner, indem er auf die (russische – russische? – – Ecco!) Site von Oriflame führt. Für so etwas geht Die Sinnliche Dschungel auch gern mal als Sandwich spazieren.

  2. Lob Ist doch wieder großartig, dieser Reisebericht. Humorvoll und geistreich. Depression good bye. Der Contessa-Auftrag scheint genau das zu sein, was Sie in jenem Moment brauchten. Weiter so. Und wenn Du denkst, es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein ……. Möge es nie mehr erlöschen.

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