Das Gefühl einer zunehmenden Abwesenheit von Erbarmen. Zeitweise nur halst sie sich wie vorgestern Abend. Abermals Windwehsehnsucht und Klamauk unter den Fenstern. Denn nicht, wie ich gehofft hatte, war ein flauer Montagabend angesagt, sondern es hatte sich der Platz bis zum Erbrechen gefüllt. Lediglich zwei mir bekannte Visagen hätte ich ansteuern können, aber es war ringsherum alles besetzt von wildfremden Leuten, die wahrscheinlich den Rest des Jahres außerhalb der Stadtmauern ihr Unwesen treibt. Mikrofonhantierungen kamen hinzu. Setzten sich in die Schallwellen einer Lotterie um. Der nächste Unruhehort hatte sich auf dem neuen Parkplatz vorm Osttor breitgemacht, der aber noch gar kein Parkplatz ist, der mit seinen immer noch nicht funktionierenden, von der EU mitfinanzierten Fahrstuhlturmskeletten aus Lattenholz ansonsten den Anblick einer verwaisten Öde bietet, wo einst Wald stand, den man extra dafür abgeholzt. Ich ahne so ein BER-Schicksal. Vielleicht könnte man ja den BER-Flughafen mutatis mutandis für Schützenfeste nutzen.
Glücklicherweise hatte man noch vor dem Tor und dem Abwärtsweg zum Parkplatz Zugang zu einer schmalen Terrasse, von der man hinabschauen konnte auf die wahrscheinlich unvermeidlichen Rituale dieser Festivitäten. Eine ältere Frau erklärte einem Mädchen aus der Nachbarschaft, das gelegentlich im Hof nach ihrer Katze namens Luna sucht, mit einem Laserlicht die Form der Kassiopeia, die etwas bläßlich gegenüber am Himmel zu sehen war. Mehr erlaubte die Parkplatzlichtorgie nicht. Dann noch eine nette Unterhaltung mit dieser Amateur-Astronomin. Immerhin war schweres Teleskop-Gerät aufgebaut. Und durfte in das Dickste hineinschauen, das direktemang auf Andromeda gerichtet war, die ich zentral als einen wuseligen dunkelgrauen Fleck sah. Der Mond in voller Pracht, die teilweise Finsternis sei schon vor zwei Stunden gewesen.
Zurück zu ‘meinem’ Platz. Die Bekannten erkannten mich, so setzte ich mich dazu, denn es waren Plätze frei geworden. Der Abend war längst nicht zu Ende. Ein Filmchen wurde gezeigt. Eine Art Mittelalter-Drama über die Dichotomie zwischen Geldgier und Liebe zur Poesie. Projiziert auf die Tafel, an der sonst die Todesfälle gemeldet werden, direkt unterm Schlafzimmer. Ausharren! Bis halb eins.
Einen Tag später ist es abermals halb eins. War abermals unterwegs gewesen. Zur mangelnden Erbarmung kommt die Abwesenheit kühler Luft. Und kaum am Rande des Rathausplatzes tauchte jemand, der nun in Heidelberg lebt (zuvor hier) und für den ich neulich eine Übersetzung angefertigt und nach Heidelberg geschickt, wie aus dem Nichts im Auto auf und reichte mir in Bar das Geld für diese und noch eine andere Übersetzung einfach so aus dem Autofenster heraus. Seine Eltern leben nach wie vor hier. Aber eben auch Rom-Einwanderer.
Ein Kenner verführte mich zum Sitzen vor dem Tor, vor das ich dann gelangt war. Spendierte eine Zigarette. Starrte aber ob des Belanglosen der Rede lieber irritiert zum Marienfresko en miniature im Torbogen, während Freundinnen auftauchten, denen ich mich artig vorstellte. Zurück stapfte ich dieses eine Mal an Valda vorbei, ließ mir ein Heinecken in der Oberstadt-Bar geben, das mir die Zerstreute an der Kasse mit 2500 Euro quittierte, wo’s doch nur 2,50 kostete. Ich hatte es nicht gemerkt, den Zettel einfach nur eingesteckt, aber sie lief mir dann hinterher. Dieses Mal belegten die Tavernen-Tische die Parkplätze vorm Rathaus. Junge Mädchen rasten hin und her und trugen Tabletts voller Freßteller.
Und da stand dann auch wieder in weiblicher Begleitung (einer anderen als das letzte Mal) der bekannte deutsche Theaterregisseur, der in der Nähe ein Anwesen sein eigen nennt, mit offenem Hemd und nichts drunter. Sie unterhielten sich auf Italienisch. Ich verstand nur einen Satz von ihm: “Io sono vecchio.” (Zwar bin ich ihm schon öfter begegnet, versuchte auch, etwas auf Deutsch anzubringen, aber das blieb nicht haften, und ich bin nicht der Typ, der partout eine Bekanntschaft andienen will, wo im Grunde bloß der Name gemeint ist (anderen aus der hiesigen Bekanntschaft scheint es wichtig gewesen zu sein, dorthin zu pilgern)).
Dann kam die “Stadtteiltaufe” (jungen Leuten wurde der Stadtteilwimpel um den Hals gebunden). Ein pretuncolo vel Priesterlein (noch jung, in brauner Kutte und in Blüte, was sein Gesicht betraf, wenn man das so ganz immenlos sagen darf) saß noch abseits mit seinem Text an der Hausmauer, in der Hand einen Stift (?), der aussah wie ein Olivenzweig, mit dem er die Zeilen entlangfuhr auf DIN-A-4-Blättern, die er vor sich auf den Knien liegen hatte. Fast hätte ich ihn gefragt: “Schreibt der auch?” Aber mir wurd’s zu langweilig.
Las dann ALP zuende, Schweiß noch auf der Stirn. Alle Fenster, jetzt gegen Eins, offen, beruhigt es sich langsam, auch weil das Trommeln und das Grillfeuer nun erloschen. Und nichts mehr zu hören als Miles Davis.
Der Abschluß der gestrigen Nacht hätte nicht besser ausfallen können.