(…) Die beiden hatten sich bei Weymor kennengelernt. Der hatte vor knapp einem Jahr fast das gesamte Obergeschoß in Turm I des World Trade Centers gemietet und zum Geburtstag seiner Tochter ein Fest ausgerichtet. Nur daß man diese Tochter nicht sah. Sie stand mit einer Freundin in der abgetrennten Best Bar in Earth und amüsierte sich, durch die Einwegscheibe blickend, an den vom Vater geladenen Idioten. Neben Olsen etwa stand mitten in Windows on the World Charles F. Krill und dozierte ununterbrechbar in einer von ihm erfundenen und auch nur ihm selbst verständlichen Sprache auf den armen Maestro nieder. Rnd Haslip war vertreten, der einige Zeit als Mitglied des Kongresses die Indizierung Donald Ducks betrieb: dessen Anarchismus indoktriniere die Jugend.
Zu den Gästen gehörte selbstverständlich Karl S. Fisher. Er erklärte soeben den Damen die Statuten seines Institutes zur Abschaffung der sexuellen Fortpflanzung. Soviel sie verstanden, sah der gottesfürchtige Mann das Seelenheil der Föten durch den kopulativen Abgang von Körpersekreten gefährdet – „Suppe des Teufels!” spuckte er gleichsam sie selbst die einhundertsieben Stockwerke nach White Hall hinab. Des weiteren war Jenny Maurizio da, die strafrechtlich und unentwegt gegen Direktoren auch ausländischer Tabakfirmen vorging, weil das genetische Material ihrer Mutter, einer schweren Raucherin, für die Tochter keine Brüste vorgesehen hatte. George Washington VII. wiederum war wegen der größten Seifenkiste der Welt ins Guinness Buch der Rekorde gekommen: achtundzwanzig Kinder fanden allein auf dem Fahrersitz Platz. Und zu ihren Füßen suchte Patti Mary, „the holy Mary of Pop”, eine ihrer Kontaktlinsen; so kroch sie, der Christian Butterflies führende Stimme, nun nicht zum Beten auf Knien herum. Sie hatte sie sich – nein, nicht die Knie – nach einem Auftritt in Rom vor einigen Monaten vom Papst weihen lassen.
Es waren Schwergewichtler aus Liliput und der Wrestler Old Cock Murdock erschienen, der sich neulich, weil es keine sonstigen Gegner mehr gab, seiner eigenen Herausforderung gestellt hatte, doch in dem Zweikampf mit sich selbst in der achten Runde K.O. gegangen und nun nicht mehr Weltmeister war. Und auch Susan B-Boy Susan chillte herum, „Californias schönster Kußmund” genannt, für den Michael Jackson Suck Machine schrieb.
Durch die Beine all dieser Menschen rannten lauter kreischende und johlende Vierjährige, die Weymor ihren elenden Eltern aus der Loisiada, Lower East Side, gegen Handgeld weggeliehen hatte und mit Schokoladen vollstopfen ließ, die sie überall verschmierten. Sowie war Idahoe Neill dagewesen. Der hatte einst öffentlich vertreten, Manhattan brauche ein Gegengewicht; es sei zu hoch, es falle sonst um. Nicht nur verbreiten müsse es sich, sondern sei entschieden zu vertiefen. So war er mit Plänen eingekommen, ein zweites, ein Under Manhattan, zu bauen, hatte Kollegen und Stadtplanungsämter mit immer neuen Invektiven geplagt. Paläste unterm Asphalt schwebten ihm vor dem geistigen Auge, ins Spiegelbild konstruierte Wolkenkratzer. Flüsse wollte er zu Füßen der von ihm so genannten Manhattan Falls entstehen lassen, welche über Hunderte Meter aus Stadtmitte nach Stadtmitte hinauffallen sollten. Er hatte der Innung den Vorschlag auf den Magen gelegt, eine hauchdünne Schicht unter New York zu ziehen, nicht gradflächig, sondern unter Berücksichtigung der unterirdischen Infrastruktur. Problematisch war bloß, daß sich, symmetrisch gedacht, Under Manhattan ganz in Manhattan hätte irgendwie repräsentieren müssen: Neill stellte sich überirdische U-Bahnen vor und Kanalisationshallen, die durch das Coliseum geführt werden müßten. „Nicht Mast nur, auch Kielgang” war die Devise, die ihm Reputation und Klienten vertrieb. So kam er nicht umhin, erste Mitarbeiter zu entlassen, schon saß er ganz alleine da, zeichnend ritzend berechnend. – Er ließ nicht nach, würde Kollegen und Welt beweisen, wie möglich dieses Projekt, das ja nötig war, war. Verschwand dann. Verschwand freilich nicht, zeigte sich nur nicht mehr öffentlich. Tauchte, im Wortsinn, unter. Bisweilen witzelte die Szene, er habe begonnen, einen Tiefenkratzer zu bauen. Es ging die Kollegenhäme um, neulich habe man unterm Marmorboden von Trump Tower 57th St midtown einen ersten Spatenstich in die Decke gehört. Nun suchte Neill, so erzählte er Olsen auf dem Fest, Künstler. Die sollten Under Manhattans Hallen mit Blattgold belegen, und vermittels einer Farbe, die das Licht, unter welchem sie erstrahle, erst erzeugt, Fresken in die Decken pinseln.
(…)
Alban Nikolai Herbst
In New York
Manhattan Roman
Hardcover, ca. 220 Seiten
Arco, Wien & Wuppertal
ab April 2021
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