Ukraine-Dialoge, INTERMEZZO oder FRIEDEN ÜBERM KOLLWITZPLATZ. Der Brief einer inneren, quasi, Waffenruhe als Arbeitsjournal des Sonntags, den 13. März 2022, über das Tagvor geschrieben und ganz früh morgens rausgeschickt.

[Verdis Requiem, Berliner Philhamoniker,
mit Susanne Bernhard unter Daniel Barenboim
wird heute um 12 Uhr w i e d e r h o l t !]

13.3.2022
7.19 Uhr

Lieber Schelmenzunft,

Ihnen heute früh mein erstes Getipptes, nachdem ich bislang nur ein wenig hie und da herumgelesen habe, weil eigentlich in mir ein Text reift, den schreiben zu m ü s s e n mir bereits gestern, d i r e k t nach Verdis Ukraine-Aufschrei, im Wortsinn not|wendig zu sein schien, der eine Anklage, verklagt wurden Gott und Erlöser, gewesen, nachhallend noch immer, weil die beiden nicht helfen, wo wir es nicht dürfen noch können, auch als Bild → dieser Sopranistin, ihres dauernd vor meinen Augen wie aus einem Nebel, der Gedanke ist, sich formenden Gesichts, schon wieder zerfallend, erneut sich formend … aber ich möchte diesen wahrscheinlich ersten tatsächlich poetischen Text zu dem Krieg als einen Ukraine-Dialog schreiben, zwischen Giuseppe Verdi, der freilich nur schweigt, und mir. Und habe dafür zwar den Ansatz, aber noch nicht, wie es sinnvoll und sinnlich weitergehn kann …
Im Lauf des Tages wird er entstehen. Obwohl ich eigentlich dringend in den Waschsalon müßte, was ich nun auf morgen verschiebe, fünf oder sechs Maschinen, nach wieder mal zwei oder zweieinhalb Monaten werden es sein, was immer einen halben Tag bedeutet – wenig, selbstverständlich, auf je solch lange Zeiten gerechnet. Doch dieser Text muß frisch sein im Sinne einer guten Unmittelbarkeit, nicht jener schlechten bei Hegel.

Uwe Dick. Nein, ich habe keinen Kontakt mehr, schon seit damals nicht mehr, seit seiner fulminanten → Grimmelshausenrede zum Wolpertinger, dafür aber manches gelesen von ihm. Einiges fand ich nicht bemerkenswert, anderes grandios, und ich werde mir → das neue Buch unbedingt bestellen, auf das Sie mich hingewiesen haben, tu es jetzt gleich, sowie dieser Brief geschrieben. Und vielleicht, nach dann der Lektüre, werd ich drüber schreiben. Ihre Worte sind dringlich, eindringlich genug. Ich gehör ja zu denen, die hören.

Gestern der Nachmittag war wie Waffenruhe-hier, schon die Sonne rief hinaus. लक्ष्मी, deren beste Freundin שרה zurück aus Südamerika ist, für zwei Monate, fragte, ob wir uns zu dritt nicht auf dem Kollwitzplatz treffen wollten, am Weinstand neben dem Käsestand (Käse aus dem Ticino), und die Sonne schien derart begeistert, daß ich dachte, im Himmel zu sein. Aus dem einen Wein wurden schließlich vier, zu Sarah, der Freundin, kamen an unserem Stehtisch unversehens neue Freundinnen, Freunde hinzu, weil zu dem, worüber wir sprachen, dem Ukrainekrieg, niemand wirklich schweigen kann. Die furchtbare Russophobie wurde Thema, tagsvor hatte es in Marzahn diesen Brandanschlag auf die russische Schule gegeben, und alle am Tisch waren einig und blickten zugleich dankbar in den blauen Himmel, wozu sie jeweils die Sonnenbrillen abnahmen und dann zwinkern mußten vor Licht, und eine große Dankbarkeit für diesen Tag lag auf uns, lag um uns herum, hüllte uns ein.

Auch ein Pfeifchen reichte sich über den Stehtisch; ich selbst war vorsichtig genug, bei meiner Tabakpfeife zu bleiben. Das andrere, „Gras“, wirkt immer noch halluzinativ auf mich, oft reicht ein einziger Zug. All die Jahrzehnte zuvor, bis zur → Magenresektion, hatte es nie eine Wirkung. (Niemals wieder werd ich vergessen, wie ich aber nun – keine zwei Monate liegt das zurück – nach nur zwei inhalierten Zügen auf dem Fahrrad vier parallele Wirklichkeiten durchfuhr, deren eine ein intensiv philosophisches Gespräch war, das ich führte, und in den anderen drei verschob sich ständig das Straßenbild, so daß ich auf dem mir bekannten doch nur einen Kilometer Heimweg, ich glaube, viermal glaubte, falsch zu fahren, und wendete, weil plötzlich der Schneider rechts statt links und die Gethsemanekirche auf einem gänzlich falschen Platz. Abermals mußte ich wenden. Absteigen aber und das Fahrrad schieben, wollte ich auf keinen Fall, sondern diese Odyssee stur überstehen, und stolz, nicht ergeben – um schließlich, die heimatliche Insel erreicht, glückvoll anzulanden.)

Wir zogen, als die Sonne sank und Wolken sich zu türmen begannen, noch in ein Café, weil’s nun plötzlich doch scharf kalt ward und der Weinstand ohnedies endlich, endlich schließen wollte – unsertwegen hatte er fast eine Stunde, vielleicht sogar neunzig Minuten „überzogen“. Sarah orderte für den gesamten Tisch Kuchen und Torten, die wir in bißgerechte Stücke zerteilten, oh, ich habe einige Enzyme mehr, zur Fettverdauung, schlucken müssen und tat es auch klug. Dann brachen wir auf, ich brachte लक्ष्मी noch nachhaus, sie hatte vor Kälte ganz blaue Lippen. Die Freundin kam mit, begleitete sie auch in die Wohnung hinauf, und ich denke, sie, लक्ष्मी, wird sich, wie sie ankündigte, wirklich auf ihrem Bett ausgestreckt und die Freundin sich da an die Kante gesetzt haben, um weiter mit ihr zu plaudern, und wenn sie nicht beide eingeschlafen sind, plaudern sie wahrscheinlich jetzt noch. Ist ja Sonntag. Derweil ich zurück über den „Helmi“ zur Arbeitswohnung spazierte, die ich genau eine Viertelstunde vor dem Requiem erreichte. Sofort, noch im Mantel, die Anlage geschärft, die digitale Konzerthalle geöffnet, dann erst den Mantel abgelegt, in den Schuhen aber geblieben, weil man in eine Kirche nicht in Schlappen darf, nur barfuß ist noch erlaubt, doch mir, im Anzug, war noch nach Schuhen. Weil ich etwas ahnte. Doch das dann, so, ahnt‘ ich nicht.

Und → es brach los.

Ihr ANH

(Oh, das ist jetzt ein schönes Arbeitsjournal. Aber ich schicke es, als diesen Brief, erst Ihnen. Doch so, ihn verwendend, gewinne ich für das Requiem, nämlich darüber zu schreiben, Zeit.)

2 thoughts on “Ukraine-Dialoge, INTERMEZZO oder FRIEDEN ÜBERM KOLLWITZPLATZ. Der Brief einer inneren, quasi, Waffenruhe als Arbeitsjournal des Sonntags, den 13. März 2022, über das Tagvor geschrieben und ganz früh morgens rausgeschickt.

  1. Lieber ANH,

    am 24.02. wurde Currentzis 50, sein Geburtstagskonzert wurde auf arte ausgestrahlt und steht zurzeit in der Mediathek zur Verfügung – dort lässt man sich wohl nicht von Elaboraten wie dem von Jürgen Kesting abschrecken:

    https://www.arte.tv/de/videos/107891-000-A/geburtstagskonzert-von-teodor-currentzis/

    Nur die Lumpe sind bescheiden, und TC ist keiner, unter „The Ninth“ (Hurwitz wird kurzfristig mit Krawatte abgebildet) macht er es nicht. BTW: Der Currentzis-Totmacher Hurwitz hat neulich, etwas zähneknirschend, dessen 14. Schostakowitsch mit Musica Eterna gewürdigt.

    Ihr Schelmenzunft

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .