[Arbeitswohnung, 7.47 Uhr
Pettersson, Siebte Sinfonie (Harding, Schwedisches RSO 2017)]
Jetzt wie aufgesogen von diesem Epilog, mit dem ich seit vorgestern dabeibin, den Triestroman abzuschließen; schon die eigentümliche Wende am Ende des → neununddreißigsten Briefes brachte wieder diese Momente des Rausches, Schreibrauschs, die mich in meinem Leben immer wieder erfüllt, weil sehr hoch angehoben haben — „gesegnet“ muß ich fast, möchte ich jedenfalls schreiben, vor allem des Tones halber, der nun aus den Geschehen herausklingt.
Für den Epilog war es eine g u t e Idee, die Perspektive zu wechseln:
Wie können wir ihn jetzt noch nennen, der morgens drauf, fast ohne sich noch selbst zu kennen, in seinem ziemlich großen AirBnb-Raum, Via Tigor 14, erwacht? Antiker Schrank, der nicht schloß, auf Fischgrätparkett, an die Wand nebens Fenster ein weißes, zum Briefeschreiben – auch den letzten nach Triest –, Ikeading mit Spiegel drauf geschoben und den Klappstuhl davor, immerhin aus Holz, und zwischen Ding und breitem, tiefem alten Bett, in dem die Schlafenden versinken, das Nachtischsregalchen, auf dem der Mini-Dictionario liegt. Und hat er nur geträumt, daß er Dich sah, als er dann wirklich aufgebrochen war? – zur Giacomo in monte 2, für die Uni war es schon zu spät, und wie in seiner Fantasie zuvor zwar nicht im Giardino Bavesi, aber davor an der Bushaltestelle an die eingerissen afficherten, von dunkler Feuchtigkeit durchtränkten Steinquader der alten Mauer lehnend Deiner harrte und eigentlich von dem zwar unabsehbar langen, doch viel zu dünnen Wasserlauf, um selbst nur Bächlein es zu nennen, nur irritiert war, weil dieser gegens Gefälle lief und sowas gar nicht möglich ist, es gestern abend aber war.
(…)
Ihm indes, dem vor dem Unwetter in die leere Gelateria geflüchteten Mann, der nach wie vor auf seinem Stuhl vor den unausgesetzten, nach wie vor gewaltigen Schauern saß, – ihm war es versagt. Doch weint’ er nicht deshalb, sondern vor Glück. Nicht er weinte nämlich, sondern es weinte sich, weinte sich ohne sein Zutun durch ihn. Wie, also ja wie können wir ihn jetzt noch nennen? Nach wie vor ein begehrendes Ich? Was hat er in dem fast schäumend strömendem Fließen gesehen? Bis hoch über die Radkappen durchschnitten es, so sah es aus, in allenfalls Schrittempo die nur noch wenigen Wagen. Die Verdrängungswellen stiegen so zwar bis an die Ränder der Autotüren an, spritzten aber nicht. In der vorderen Rinne zwischen Fahrdamm und Bürgersteig riß das dort deutlich schneller strömende Wasser Papierschnitzel mit sich, Zigarettenschachteln, ja rotierende leere Softdrinkdosen. Ein Babyschnuller kreiselte unsicher zwischen den wirbligen Hügelwogen einem unsichren Ziel zu, vielleicht einer einsamen Insel. Sogar eine kleine Handtasche tanzte zwar irre, sie aber offenbar freudvoll da mit; es kann nicht viel in ihr gewesen sein, sie wäre sonst untergegangen. Ihr folgte eine zum führerlosen, sich wie zweifelnd hin- und herdrehender Quppu1 gewordene Basecap. In das allüberall tosende Klatschen und mehr noch andauernde Geprassel auf dem festen schmalen Baldachin der Eisbar mischte sich das gleichsam von einem Schlagzeugerbesen dauergerührte vorbeiströmende Rauschen als ein unentwegter Basso continuo in freilich Mezzolage, was des Mannes Sinnen geradezu Absence werden ließ, doch eine von äußerst heller Gegenwärtigkeit.
(Briefe nach Triest, Erste Fassung. Epilog TS 466-470)
Wobei der Trick dieses Wechsels eben darin besteht, daß nun zwar auktorial erzählt, dennoch weiterhin die Briefempfängerin angesprochen wird, so daß der Autor der Briefe eine Objektivierung erfährt; sozusagen ist nun ein Zeuge hinzugetreten, nämlich der auktoriale Erzähler, um die Geschehen zu beglaubigen. Den „Effekt“ finde ich ganz enorm: Ich sein, doch ein Fremder, fast etwas Ferner; so sind die, nun jà, Wunder, um die es nunmehr geht, nicht mehr „nur eingebildet“, wobei das erste Wunder ja im Wortsinn von dem gewaltigen stundenlangen Wolkenbruch quasi ausgelöscht wird, einem, den ich auf dem Karst und in Triest eben tatsächlich erlebt habe; und tatsächlich saß ich ja selbst vor dem enormen Fluten in der kleinen, an der D’Annunzio-Viale gelegenen Gelateria-Bar al Bignè, die es heute, wie ich recherchiert habe, schon nicht mehr gibt … – saß da und kam lange, lange nicht mehr weg. Daß hieraus eine große Romanszene würde — eine sogar, die ins Finale führt — konnte ich da noch nicht ahnen, ebenso wenig, wie daß mein „Held“ eine Läuterung durchmachen würde. Obwohl die Krebsin es mich hätte schon ahnen lassen können. Wobei eine Rolle sicherlich mitspielt, daß mein rechtes Bein leider wieder auf eine Arterienverengung hinweist; habe gestern meiner Angiologin gemailt. Der Instinkt meines seit je verläßlichen Körpergefühls sagt mir, es müsse wohl noch ein zweiter Stent gelegt werden – was ich so schnell wie möglich angehen, also erst einmal faktisch überprüfen lassen will. (Diese Woche wird es nicht mehr klappen, schon der nächsten Hochzeit wegen, zu der ich am Mittwoch reisen und auf der ich eben auch die Rede halten werde. Doch in der übernächsten, hoff ich, dann.) Auch dieser Umstand allerdings betont ein zunehmend wichtiger gewordenes Motiv des Romans, ein halb moralisches, halb erkenntnispraktisches, das deshalb zugleich eines der persönlichen Haltung ist. Die hier abermals auf dem Prüfstand steht, und zwar – auch das betont der vorgenommene Perspektivwechsel – als Aussage der Dichtung-selbst, womit ich eben nicht „meiner“, meiner Haltung also, meine, sondern eine, die sie geradezu unabhängig von mir mitteilt, durch mich nur gestalten läßt. Ich selbst führe lediglich aus. Genau das aber ist es, was diese poetischen Rauschzustände erzeugt und später, wenn ich ein erschienenes Buch wieder vornehme, spüren und auch sagen läßt: Das kann nicht ich geschrieben haben. Die, Freundin, „Hybris“, na meinetwegen, tritt uns als ein Fremdes gegenüber, das uns fasziniert, erschüttert, betroffen macht, was immer, und zwar sich von uns hat formulieren lassen, aber sich längst abgelöst, um wie ein Kind, das erwachsen wurde, fast völlig eigenständig zu sein. So daß es uns, und nicht selten vollen Rechts, auch kritisiert, ja infrage stellt; es kann sich sogar überwerfen mit uns. So daß das eigne Buch uns sagt: Du hast falsch gelebt. Oder: Das hast du richtig gemacht. Oder: Da hättest du s c h o n noch mal nachdenken können.
So gesehen ist auch dieses, sind die „Briefe nach Triest“, ein Sterbebuch, nicht das Traumschiff allein, wenn auch auf völlig andre Weise und aus anderen Mysterien gehoben, mit anderen verwachsen; nur an den flirrenden Rändern überschneiden sie sich. Wobei … nà, Freundin, „nur“ ..? —
Zu altern ist ein Sterben, die Zellen und Gefäße leben es uns vor. Dies klar vor Augen haben und nicht versuchen, davon wegzudenken oder sich sonstwie abzulenken. Und dann. Einverstanden zu sein.
Was er sich fantasiert hatte – eine offene Hintertür des Museums zu entdecken, weil irgendwas geliefert wurde oder abtransportiert werden mußte, was ungern während der Publikumszeiten erledigt wurde, und heimlich dann hineinzuschlüpfen, um schließlich ganz alleine der Carsomarer Venus gegenüberzustehen, verwarf er klugerweise erst einmal. Um sich keine Unterkühlung zu holen oder einer, die er sich schon zugezogen habe, etwas entgegenzusetzen, brauchte es dringend eine heiße Dusche, und zudem sollte er eine Stunde schlafen, spürte er, bevor es in den Abend ging. Schon, um nicht jeglichen Realitätssinn zu verlieren. Kurz, für das nächste Abenteuer war er noch nicht bereit. Wie denn wohl anders? Entsagung ist die tiefste Arbeit unserer Seele, entsagen schließlich zu können und – mit ihr einverstanden zu sein, noch mehr sogar sie zu w o l l e n. Und er begann zu werden, was er war.
(Briefe nach Triest, Erste Fassung, Epilog TS 473)
Gleich, Freundin, wird es also weitergehen. Nur sitze ich – wie seit drei Tagen etwas später als gewöhnlich aufgestanden, weil so sehr ruhig nun, was den Fortgang dieser Arbeit anbelangt – noch immer im Bademantel hier und möchte erst zur Rasur und mich waschen, sodann kleiden, um angemessen dann, eben selber auch geformt, ins große Finale zu schreiten, das ich schon heute vielleicht nicht mehr, doch sehr wahrscheinlich morgen geschrieben haben werde — und die Erste Fassung dieses Romanes damit abgeschlossen. Wie sinnig, was die France musique in diesem Moment sendet:
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Ihr ANH
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