Er fragte sich in einer geistigen Fußnote, die ihm eines Tages gut zupaß kommen mochte, ob Sonnenbrillen oder irgendwelche anderen Visions-
varianten, die unsere „Raum“-Vorstellung mit Sicherheit verdrehen,
nicht auch unseren Sprachstil beeinflussen.
Nabokov, Ada oder Das Verlagen
(Dtsch.v. Marianne Therstappen & Uwe Friesel)
[Arbeitswohnung, 9.22 Uhr
France musique, La Baroque:
Scarlatti, La muse Urania]
Woran ich mich immer selbst erinnern muß, ist, daß zu lesen nicht Freizeit, sondern ein Teil meines Berufes ist, nicht nur bei, wie jetzt wieder, Nabokov, um diese Serie ferigzubekommen, sondern auch ganz, nun jà, allgemein. In den Hochphasen meines eigenen Schreibens komme ich kaum dazu, wie sich doch insgesamt mein Leseverhalten wie ein Komet verhält, der zwischen verschiedenen Sonnensystemen kreist, deren Zentren mit meinem zunehmenden Alter feste Fixsterne sind, zu denen nur noch höchst selten ein neuer hinzukommt, eine neue Sternin auch. Und auch das Neue, das mich „direkt“ begeistert – wie etwa von mare das Buch von dem → Gentleman, der in den Pazifik fällt -, bleibt selten weiterhin am Leuchten, sondern verglüht meiner Erinnerung erstaunlich schnell. Da muß schon etwas „kommen“, das mich nicht nur der Geschichte wegen, sondern vor allem aufgrund von Konstruktion und Stil sozusagen umwift. Obwohl, manche Pflanzen blühen ja auch nur eine davon himmlisch durchleuchtete Nacht. Nichts also gegen Eintagsbücher. Doch sie prägen nicht.
Bücher aber, die ich schätze … nein, bewundere, sind auf Langzeit angelegt; Christoph Jürgensen, in dem text+kritik-Band, spricht von kurzen und langen Zyklen, wobei ich von dem Umstand, daß letztere auch im Bewußtsein der, sagen wir, Höheren Gefilde des Literaturbetriebs nicht die Klinke runterbekommen, sondern dies fast allein nur denen der kurzen gelingt (und da dann grenzt an Zufall, welchem es gelingt)— wobei ich davon gestern wieder unterrichtet wurde.
Auf dem 5-Jahresfest des Literaturhauses Fasanenstraße hatte mich eine der beiden leitenden Damen angesprochen, daß wir doch auch einmal etwas zusammen veranstalten sollten. Das nahm ich selbstverständlich hocherfreut entgegen und unterbreitete auch gleich den freundlich angenommenen Vorschlag, die Premiere des Triestromans hier durchzuführen, von dem ich halt noch nicht wußte, daß ich ihn erst einmal wieder zurückziehen würde; weshalb, Freundin, habe ich Ihnen → dort erzählt. Nachdem sich das Erscheinen des Romans nun aber um ein Jahr verschieben wird, legte ich per Mail anders, sozusagen, n a c h und schlug vor, nunmehr einen Abend zur jetzt kompletten Elfenbein-Ausgabe der Pentalogie Verwirrung-Wolpertinger-Anderswelt 1 – 3 zu gestalten, da die Verwirrung ja nunmehr in komplett neuer Bearbeitung erschienen ist, in eben diesem unserem Jahr 2023, also eben nicht das alte, sondern ein quasi auch neues Buch.
Die Absage erreichte mich gestern, sehr freundlich wieder, doch mit der mich ein wenig irritierenden Allgemeinaussage, die Romanserie passe nicht ins Programm des Hauses.
Ich reagierte erstmal nicht, zum einen, weil sich auf so etwas antworten kaum läßt, zum anderen, weil ich am Abend ohnedies im Haus sein würde. Denn → Wolfgang Roth, den ich noch aus Frankfurtmainer Zeiten kenne, stellte dort im Gespräch mit Elke Schmitter sein Romandebut vor; allein aber die Kombination der Journalistin mit diesem Autor fand ich reizvoll, auch wenn dann tatsächlich viel eher über den Plot, freilich einen erhellenden, gesprochen wurde als tatsächlich über das Literarische daran. Einer aus dem Publikum versuchte es, wurde aber abgeschnitten. „Nur Fragen, bitte.“ Roth m a c h t e dann einfach eine daraus und beantwortete sie sich selbst, und uns. Wobei ich tatsächlich lieber mehr Text gehört hätte als dieses mehr oder minder menschelnde Gespäch, bei dem immerhin das Wort „Ambiguität“ fiel und die Erkenntnis ward gewonnen, daß ein harter, gegenüber einem seiner Söhne geradezu gemütskalter Vater zugleich ein Gegner Hitlers gewesen sein kann (und war), der eine versteckte Jüdin eben nicht verrät. Was den Plot anbelangt hätte ich nun gerne erfahren, was ihn denn gegnüber dem Sohn so kalt hat s e i n lassen. Roth ist Psychoanalytiker, er wird die, sagen wir, „Botschaft“ im Buch schon untergebracht haben. Denn hier fängt die Dynamik überhaupt erst an, interessant zu sein. Und dafür hätte ich gerne zur Ästhetik mehr gehört. Die vorgetragenen Passagen waren schlichte Ich-Perspektive, wenn auch einmal die des Teenagers, der fast noch Kind ist, und zum anderen desselben, nun aber sehr viel älteren Menschen. Das Buch sei von Empörung getragen, wurde referiert, nicht stilistisch gezeigt. Aber durchaus möglich, daß die Lektüre des Buches insgesamt sie vorführt; aus dem Wenigen von gestern abend erschloß es sich mir nicht. Dennoch – so mein Eindruck – eine Lektüre, die sich für viele Leserinnen und Leser, mehr wohl für letztre, lohnt, solche jedenfalls, die nicht in erster Linie oder nur wenig an moderner Romanästhetik interessiert sind.
Doch zurück zu meinem eigenen Vorschlag.
Nach der Veranstaltung sprach ich die eine beiden Leitungsdamen an. „Was ich nicht verstehe, ist, weshalb die Pentalogie nicht ins Programm paßt, der neue Roman aber sehr wohl.“ So daß klar wurde, weshalb sich die Klinke mit dem langen Zyklus nicht herunterdrücken ließ, sehr wohl aber mit dem kurzen: „Weil wir gerne die Romanpremiere haben möchten.“ – Ein wenig schluckte sie dann schon, als ich klarstellte, daß die Triestbriefe ganz sicher nicht vor Ablauf von nunmehr knapp anderthalb Jahren erscheinen würden; dafür vereinbarten wir immerhin, daß das Literaturhaus Fasanenstraße ihr Premierenort w e r d e. Für die nun komplettierte Pentalogie werden sich der Verlag und ich nun etwas anderes ausdenken müssen. (Was bei solchen Verhandlungen gern vergessen wird, ist freilich der Umstand, daß wir Autorinnen und Autoren auf Honorare angewiesen sind, um irgendwie durchzukommen. Prinzipiell wäre doch nichts dagegen zu sagen gewesen, in diesem Jahr die Pentalogie vorzustellen und die Premiere der Triestbriefe dennoch im Herbst nächsten Jahres hier ebenfalls stattfinden zu lassen. Was es jedenfalls bedeutet, nahezu fünfundzwanzig Jahre an einer geschlossenen Romanserie gearbeitet und sie auch fertiggestellt zu haben, spielt in diesem Betrieb nahezu keine Rolle. — Nein, dies ist keine Klage, sondern bloß ein nüchterner Blick.)
[Zweites Frühstück, 10.40 Uhr]
Ansonsten läuft hier im Hintergrund immer noch eine mich –aber nur leicht – quälende Angelegenheit mit, die ich nicht öffentlich machen möchte, auch nicht dürfte, auf die aber immer wieder wohldurchdacht reagiert werden muß, was allerdings andererseits auch etwas mich tief Befreiendes mit sich führt. Womit wir, Freundin, noch einmal bei Schmitters Ambiguität sind. Außerdem stehe ich vor der Frage, wie jetzt weitermachen. Eigentlich stürzte ich mich gerne gleich erneut auf die Triestbriefe; andererseits sagt mir meine Erfahrung, es wäre gut, erst einmal ein bißchen Distanz zu bekommen, um mit frischem Blick auf alles zu schauen. Auch deshalb habe ich → die Nabokov-Serie wieder aufgenommen. Ich könnte aber auch anfangen, für Elfenbein den sozusagen Spinoff zu schreiben, die HoruShi-Tattoonovelle, von der ich Ihnen hin und wieder schon erzählt habe. Doch drängeln sich die Möglichkeiten, necken sich gar mit Ellbogenstößen, kommt es nämlich, wie es kommt: zu nichts. Außer, siehe oben, daß ich lese, sehr viel lese. Indessen es jetzt, fast Mitte Mai, wirklich an der Zeit ist, sämtliche Winter- gegen die Sommerklamotten auszutauschen, was in meinem vollgestauten Segelboot knapp einen Vierteltag wird brauchen. Macht nichts, Freundin, S o n n e ist!
Ihr
ANH
[11.30 Uhr, France musique, La Baroque:
John Blow, Venus and Adonis]
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Sie war ein so bedauernswerter Liebling, daß, als sie sich aufmachten, den Grillraum zu verlassen, er nicht umhin konnte, da Lüsternheit die beste Brut-Brühe fatalen Irrtums ist, ihre schimmernde junge Schulter so zu liebkosten, daß für einen Augenblick, den glücklichsten in ihrem Leben, die vollkommene Wölbung sich fangbechergleich in die Höhlung seiner Hand einpaßte.
Nabokov, Ada, 592
Ist aber nicht der Fangbecher — die H a n d?
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[17.37 Uhr
Keith Jarrett, 1988: Klaviersolo Madrid]
Erledigt. Winterklamotten gegen Sommerkleidung getauscht und jene gut – auch frisches Mottenpapier in den Säcken – verstaut. Ich sag ja, Freundin: Segelboot.
Danach Signalgespräch mit Benjamin Stein, den ich morgen nun zum Mittagessen treffen werde. Wir sitzen ja an einem neuen Gedicht. (Das leider immer noch etwas entzündete → neue Tattoo fängt jetzt immmerhin zu jucken an. Was ein Heilungszeichen ist, allerdings die Beherrschung erheischt, sich auf keinen Fall zu kratzen.)
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