Aus Grazon zurück ODER Ardis in Trümmern. Als Arbeitsjournal des Freitags, den 19. Mai 2023. Nabokov lesen 45: Intermezzo III.

[Arbeitswohnung, 9. 15 Uhr
Mahler, Das Lied von der Erde
(Die wahrscheinlich → schönste aller Einspielungen:
Dieckie, Fischer-Dieskau, London PO, Kletzki, 1960)]

                             Was des Dichters ist[1]und der Dichterinnen — wir sind ja sowas von correct!: Die Zeit zurückstellen, indem wir trotz all der Bilder der Zerstörung → des Ardis Sommer in die Gegenwart ziehen. Was uns auch gelingt, so daß das wunderbare Paar erzählt und erzählt (und es in dem Moment erlebt). Ich mußte gar nichts tun als zuzuhören, um Mariupol, in uns als Bahmuts Allerseelen stets entsetzlich präsent, aus ganz Estotiland hinauszuschieben und als eine Zukunft zu verspüren, die mit Nabokov nie ist, nichts jedenfalls als eine Fiktion, in die die Zeit sich vielleicht gabeln wird, vielleicht jedoch auch nicht, sondern „weiter flußabwärts“ werden da wieder „bunte Dächer“ sein, und oben über den Köpfen des Brautpaars „langen die Arme einer Linde nach denen einer Eiche wie eine grünpaillierte Schöne, die auf ihren starken Vater zufliegt, der wartend an seinen Füßen vom Trapez hängt. Die Linde nämlich ist die fliegende italienische Dame, und der alte Eichbaum, der alte Liebhaber wartet mit Schmerzen, aber fängt sie trotzdem noch jedesmal.“ (Nabokov/Therstappen&Friesel: Ada 71)
Eine Zeitlang sagte sie nichts, die Braut, „aber ihre Nasenfügel wurden eng“ (ebda.). Mein Recorder war geduldig.
Insgesamt fünf Stunden Gesprächs bei zwei Austern (die selbst zu öffnen ich mir erbat), Lachscarpaccio und dreierlei Reh zu Muskatellerwein und Riesling. Ein hoher Fels dem Restaurant gegenüber, in der Ferne auf den Bergen lag Schnee.

Nächstm o rgens erst n e u e Zerstörung oder die alte erneuert, die Bilder erneuert: schaudernd Parallelwelt. Antiterra und Terra, hindurch der Umformer schreitet und am Bahnhof, auf einem betonenen Sockel, den letzten Cigrillo raucht vor dreizehn Stunden Fahrt mit Umstieg in München, wo sich in den ICE 508 die Passagiere zweier weiterer Züge quetschen, die nicht ankommen wollten, wohl auch nicht konnten. Wie froh ich bin, reserviert zu haben! Die Reisenden – bis auf später einen, der, ohne es zu sein, deutschnational aber bellt – sind durchweg gut gelaunt, die Zugbegleiterin ist’s aber nicht; an ihr nimmt der Beller sich das Mißgestimmtsbeispiel. Ich drehe mich um, weise ihn in die Schranken einer höchst notwendigen Höflichkeit. Er beugt sich aggressiv zu mir vor, ich lächle ihm ins Gesicht. „Wenn Sie mit mir Sprachspiele spielen möchen, bitte sehr. Doch Sie werden verlieren.“ Der Satz ist eine ihm viel zu komplizierte Waffe, denn er erkennt sie offenbar nicht. Deshalb ruft er – schweigend, indem er sich setzt – eine Kampfpause aus, die von München bis Berlin währt; ich höre ihn manchmal in norddeutschem Sprachklang mit seiner Nachbarin flüstern, während ich → Rowohlts Literaturmagazin Nr. 40 lese, das Nabokov gewidmet ist, darin ein prächtiger Beitrag Thomas Lehrs, eines Autors von durchaus dem Rang Christopher Eckers,

verweist schließlich darauf, daß man sich in der unheilbar parodostischen und unheilbar nostalgischen Darstellung einer russischen Aristokratenfamilie befindet, wie es sie unbedingt einmal gegeben haben muß,
LM40, 116

ein, von Thomas Hettche, halb geglückter Experimental- „Versuch über die Liebe“, in diesem Fall Lolitas mit der herbeigezerrten Frage am Schluß, ob

nicht der stechende Blicke des Textes in der glänzenden Feuchte deiner Augäpfel sich selbst besieht,
LM40, 129

ein ziemlich schlechtes Gedicht Michael Krügers, der Gerd-Peter Eigner vielleicht deshalb nicht mehr bei Hanser sah, weil dessen „Fleisch und Begriff“ (ebenfalls zu Lolita — später in Nachstellungen I, dielmann 1998, übernommen) ganz oben auf der Jakobsleiter steht,

Sind Wort und Nomen, Gedanke und Gegen-Gestalt die Ursache allen Unheils der Welt? Ist der Benenner der Täter? Oder ist das sprichwörtlich namenlose Unglück – der sprachlose Schrei von Kreatur und Materie und das sich in den Wartezimmern des Selbstgenügens drängende Menschenverstummen – von derart imperativer Kraft, daß wir gar nicht anders können, als uns in die Pflicht nehmen zu lassen und es also, wenn wir es denn schon erkannt haben, zu benennen, ihm den Namen zu geben, damit wir es bannen?
LM40, 97

indessen Krügers grad mal einen Fuß auf ihre unterste Sprosse bekommt. Was aber nichts macht; lesenswert sind auch Giorgio Manganellis, von Maria Gazzetti übertragen, „Täuschung und Bezauberung“,

Das Sterile ist das, was ohne Grund geschieht, umsonst, das Gefühlslose, die Exaktheit,
LM40, 63

sowie wichtig vor allem auch Martin Lüdkes „Der aristokratische Gestus des Schreibens in der ‚Kunst des Lesens'“:

Wo die Wirklichkeit mit der Idee konfrontiert wird, da muß – kein schlechter, wenn auch zugegeben ein gefährlicher Gedanke – die Wirklichkeit ihre vernünftige Gestalt nachweisen.
LM40, 147

 

 

 

 

Da kam ich an Berlin Südkreuz an, nahm die S42 und spazierte etwas mehr als zwanzig Minuten später vom Bahnhöfchen Prenzlauer Allee zur Arbeitswohnung, wo ich Umhängetasche und Reiseköfferchen leerte, den Laptop aufbaute, dann mich kurz frischmachte, um mich sofort aufs Fahrrad zu setzen und gen Hasenheide zum Freundestreff zu radeln. Dort ging’s für mich, gestern frühnachts einmal vernünftig, bis kurz nach halb elf. Und durch die Nacht zurück.

Berlin ist freilich Estotiland nicht. Ein imaginäres Land „Stadt“ aber d o c h — zugleich.

Ihr, o Freundin,
ANH

 

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References

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1 und der Dichterinnen — wir sind ja sowas von correct!

1 thought on “Aus Grazon zurück ODER Ardis in Trümmern. Als Arbeitsjournal des Freitags, den 19. Mai 2023. Nabokov lesen 45: Intermezzo III.

  1. Wirklich eine sehr schöne, vielleicht die beste Aufnahme mit Fischer-Dieskau, aber die Referenz ist IMHO immer noch Klemperer mit Christa Ludwig und Fritz Wunderlich – für die Ewigkeit – und einige „modernere“ sind auch nicht zu verachten: Gielen, Kubelik, Bertini… Zum Glück gibt es sehr viele sehr gute Aufnahmen des Liedes von der Erde, und es ist des Hörens und Staunens kein Ende.

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