Mit Uwe Pralle unter den Päonien. Im Arbeitsjournal vom Sonntag, den 4., bis zum Dienstag, den 6. Juni 2023. Dazu erneut „der Friedrich“.

[Arbeitswohnung, 9.37 Uhr
France musique opéra:
Roussel, Padmavati]

                                    Nicht ganz heraus, Freundin, ob ich dieses (wirklich mal wieder „fällige“) Journal fertigbekommen werde, bevor ich mich zur letzte onkologische Halbjahreskontrolle aufs Rad schwingen und nach Mitte fahren werde; um elf muß ich dort sein, Wenn da dann alles gut verläuft, keine neue Warnung laut wird, werde ich nun wahrscheinlich d o c h mit dem → Friedrichroman beginnen — erst nur weiter skizzierend, weil die Briefe nach Triest vorgängig sind (ich warte nur darauf, daß auch mein Verleger ganz gelesen haben, ganz, eben, nicht nur auszugsweise wie bislang, und vielleicht den einen oder anderen Einwand formulieren wird, den ich bei der letzten Durch- und Überarbeitung gleich mitberücksichtigen kann, gegebenenfalls, so daß ich mir nicht doppelte, dreifache Arbeit mache, abgesehen davon, daß ich für den Friedrich irgendwie auch eine Finanzierung hinbekommen muß. Immerhin rechne ich wieder mit zehn Jahren, die der Roman brauchen wird. Den Elfenbein aber sehr, sehr gerne haben möchte; mein Verleger Držečnik bringt, wenn wir uns sehen, das Projekt immer wieder aufs Tapet; andere Freunde tun es ebenfalls. Bislang wehrte ich immer ab. Ich meine, es wäre wirklich ein Alterswerk und gewiß der letzte Tausender, den ich die Anmaßung hätte, a u c h noch stemmen zu wollen. Das ist s c h o n ein bißchen größenwahnsinnig, wenngleich auf leidenschaftlich literatur(- sozusagen -)visionäre Weise — … ironisch gesprochen (geschrieben): ein poetischer Leistungs-Kraftakt, der mich nicht vor meinem achtundsiebzigsten Lebensjahr ins Ziel einlaufen ließe; da wäre ich knapp achtzig also, der ich aber, vor allem nach der Krebsgeschichte, nicht gesund genug für so etwas lebe (gut tu ich’s allerdings); die Raucherei schon spricht dagegen.

          Wir trafen uns auf Caffè & Cornetto im – und saßen auch wieder draußen –  SIGISMONDO, in dem auch meine kleine Erzählung spielt, die im text+kritik-Jubiläumsheft erschienen ist, das ich Salvatore, dem Barista, geben wollte, der von seinem, nun jà, Glück noch gar nichts wußte, sich dann aber recht freute. Držečnik wiederum, abgesehen vom Friedrich, mußte mich wegen meines Plans einer kleinen Horu-Shi-Novelle auf das Frühjahr 2015 vertrösten, die ein sozugen „Spin-off“ des Triestromans würde — schlichtweg, weil, in ihm selbst dieses Motiv zuende zu erzählen, seinen ohnedies schon reichlichen Umfang unangemessen noch aufgebläht hätte. Erzählen w i l l ich es aber, noch v o r dem Friedrich, klar.

          Abends zuvor ein wunderbares Treffen mit meinem Sohn vor der KOHLENQUELLE, der Kneipenbar, die er quasi schmeißt: müßte er finanziell gar nicht, aber es bereitet ihm Freude. Er macht grad mit einem neuen Rap-Clip Furore, ist aber mit dessen künstlerisch-technischer Umsetzung nicht recht glücklich. Letztlich ist er formal genauso streng wie sein Vater, der nicht zuletzt deshalb eine ganze Menge über eine Musik-, wohl auch Livestyle-Richtung lernt, die ihm, also mir, eigentlich nicht liegt. Aber tatsächlich ist F o r m eine Brücke, über die ich jedes Mal gehe. — Mein Einwand bezüglich des Clips war und ist, daß ich es ein wenig zuviel der Selbstinszenierung mit der Zigarette finde; ein-, allenfalls zweimal hätte das Motiv deutlich genügt. Aber

entscheiden Sie selbst:

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                 [14.41 Uhr]

           Mußte wirklich vor Beendigung dieses Journales los, Untersuchung lief ok, die Blutwerte inkl. etwaigen Tumormarkern kommen aber erst nach der Laboruntersuchung; hoffentlich also nicht. Anlaß zur Sorge gab es bis jetzt auch keine. Erschrocken war ich allerdings wegen des veränderten Aussehens meine Onkologen. „Oh, S i e haben aber abgenommen!“ rief ich fast aus, als ich für den Ultraschall schon auf der Liege lag. Hatte es jetzt auch ihn erwischt? Das Gesicht extrem schmal, die Züge wie aus Holz geschnitzt – „markant“ ist eine, deutlich nicht harmlose, Untertreibung. — Er beruhigte mich, versuchte es jedenfalls: „Ich habe angefangen, intensives Krafttraining zu treiben und meine Ernährung umgestellt. Kein Fleisch mehr, zum Beispiel.“ – Ganz überzeugen tat mich das nicht.
Mit dem Fahrrad zurück, bei Lindner mein italienisches Bauernbrot besorgt, dann den auszutauschende Dolito im Päckchen zur Postannahmestelle gebracht, der morgens die von der – Sie wissen, Freundin, Chemofolge – Polyneuropathie betroffenden unteren Extremitäten je eine halbe Stunde mit leichten Stromschlägen reizt (um dem Gehirn trotz der beschädigten Nervenenden ein freundliches „Wir sind noch da“ zu signalisieren), schließlich heim, zweitgefrühstückt — da war es bereits für den Mittagsschlaf Zeit.

           Jetzt auf, den Caffè in der Pavoni bereiten, dieses Journal beenden und dann mit der nächsten Hochzeitsrede weitermachen, die mich in den vergangenen vierfünf Tagen insofern intensiv beschäftigt hat, als ich das zweite Tonprotokoll verschriftlichen mußte. War einigermaßen komplex; wieder an die sechzehn eng betippte Seiten, die mit den vorigen sechzehn eine irre Menge höchst brauchbaren Materials an die Hand geben. Nur muß ich jetzt sehr aussuchen; ich könnte eine längere Erzählung schreiben, so viel klasse Stoff gibt’s, doch darf solch eine Rede nie länger als fünfzehn, allenfalls zwanzig Minuten währen. Gerade für solche Veranstaltungen, bzw. Zeremonien gilt, abzubrechen, wenn alle gerne noch weitergehört hätten, dann, wie es heißt, „wenn es am schönsten ist“. Das bleibt in den Erinnerungen. Und es muß eine Storyline mit deutlichen Momenten von Spannung und Erleichterung geben („Erlösung“ wäre hier ein zwar treffendes, aber wohl doch übereibendes Wort).
Morgen abend, denke ich, werde ich den ersten Entwurf fertig haben und dem Paar schicken können. Viel Zeit ist nicht mehr, noch etwas über einen Monat, daß ich die Rede halten werde. Wo da im Süden, wird nicht verraten. Sie sind ja eh, o Freundin, dabei

*

          Gestern abend erstmals dieses Jahr im Pratergarten, meiner Berliner eigentlich Sonntagssommerfrische. Treffen mit Uwe Schütte und Oskar Ansull, unter andrem → Uwe Pralles wegen, mit dem ich kurz mal befreundet war, bis eine Frau uns trennte. Ich war kaum zwei Jahre im Berlin, wohnte aber schon in dieser meiner Arbeitswohnung. Der Prenzlauer Berg war Wilder Osten, jeder Tag ein Abenteuer. Über den Kollwitzplatz, in tiefstem Schnee, schwebten Scheichs in seine, des Schnee’es Farbe, gekleidet, krumme Dolche unter ihren Gewändern. Thetiszeit.

Sie schenkte mir, die Frau, eine Originalgrafik von 1995, die heute noch an einer meiner Wände hängt und mir sogar gewidmet ist:

—  hingegen Pralle meinte, was ihr selbst recht neu war, die Frau „gehöre“ i h m. Zuvor hatte er über den Wolpertinger eine famose Rezension geschrieben, danach die Sizilische Reise verriß er: „So bleibt nichts von dem Buch als ein gewaltiger Schweißfleck“ endete in der FR sein ziemlich übler Text, der mit „Zurück zu den Müttern“ noch freundlich übertitelt war. Nun gut, ich wußte von seiner nur halt erfüllungslosen Liebe, und es war kein feiner Schritt von mir, über sie hinwegzusehen; aber es war eben auch die Frau, die darüber wegsah. Es wurde eine schöne Nacht, auch eine gute. Pralle und ich aber sahen uns nie wieder. Es ist für mich nicht akzeptabel, wenn ein persönliches, sagen wir, Problem ein Urteil in der Kunst begründet; wenn sie gute Bücher schreiben, schreibe ich das selbst über erbitterte Feinde, wie übel sie mir auch wollten oder weiterwollen. Wir haben da einen Maßstab, die Form. Verkloppen können wir uns später. Für ein Duell hätte ich bereitgestanden; ein Zeitungsveriß hingegen gehört nicht in die Wahl der Waffen, sondern ist in solchem Zusammenhang feige Heckenschützerei – eine, wohlgemerkt, die auf einen nicht grad Liebling des Betriebs zielte, sich also von vornherein handgemein machte. Was er sehr wohl wußte.
Schwamm drüber. Pralle starb sehr früh, mit nicht einmal vierundfünfzig Jahren. Es ist tragisch; ich erfuhr erst viel später davon. Zu seinem 69. Geburtstag wird nun in diesem Jahre in den → Celler Heften eine von Uwe Schütte herausgegebene zweibändige Würdigung seines, Pralles, hinterlassenen Werkes erscheinen, mitsamt einer akribischen Zusammenstellung seiner Aufsätze und Rezensionen. Er war, das kann und muß und will ich sagen, ein so scharfsinniger wie gebildeter Geist, und wenn er nicht grad unter Druck war, persönlichem, ökonomischem, auch begnadet als Stilist.

[Foto: Wikipdia]

Einen Text zu ihm zu schreiben, worum ich gebeten wurde, habe ich aus den hierüber genannten Gründen allerdings abgelehnt. Die Ausgabe will ich dennoch bewerben und werde, wenn die beiden Bände da sind, noch dezidiert über sie schreiben — was ohnedies nur dann geht, steht nicht ein Beitrag von mir selbst drin.

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          Jetzt wieder an die Hochzeitsrede.

Ihr ANH
18.05 Uhr, Unter der Päonie (der einen meiner derzeit dreie)

[Schostakowitsch, Sinfonie Nr. 15]

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P.S.:
Übrigens, Freundin, womit zu rechnen war. Schütte ließ durchblicken, nun habe sich die „woke“ Bewegung auch Nabokov zugewandt. Eigentlich muß sie nur, um fündig zu werden, → meine Serie lesen, um all die heiklen Stellen zu finden. Die dann bloß aus einer anderen als meiner künstlerisch-ästhetischen betrachtet zu werden brauchen; schon ist genug Munition da, um die gesamte europäische Kunstgeschichte in die Luft zu jagen. Was ziemlich offenbar, soweit es eine eben „westliche“ ist, erreicht werden soll.
Da fühl ich mich richtig wieder als Rebell, ja als ein Partisan des Widerstandes. Zwar wird’s mich weiter Preise kosten doch solang es lächelt, mich a n, mein Spiegelbild, wird mir nicht eine Rasur zur Tortur.

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