1 thought on “„Bis in das neue Licht hinein“: ANH in Gutenbergs Nachgespenstern, WDR 3. Ein Podcast mit Manuela Reichart.”
[Zum Mitlesen:]
Alban Nikolai Herbst
Bis in das neue Licht hinein
Ich bin 68, fast schon 69. Die Dunkelheit, eine sehr wahrscheinlich bleibende, naht; so naht mithin die Endgültigkeit, ein Ende, das sich nicht mehr umdrehen läßt. Ein neuer Tag wird sehr bald nicht mehr werden. Weit zurück die Zeiten, in denen auf je den nächsten so unbedingter Verlaß war, daß ich mir durchschriebene Nächte nicht nur leisten konnte, sondern sie ebenso intensiv feierte wie heute die Jugend in Clubs. Aus guten Gründen gehen wir Älteren nicht mehr oft dorthin, anders als früher, da die Melancholie noch zum Selbstverständnis eines Poeten gehörte, der auch noch gar nicht das Handwerk verstand, das uns die Form zu schätzen lehrt und ihre klaren Konturen. Die wir halt nur im Licht erkennen und ausführen können. Das Ungefähr dient der – sofern es sie überhaupt gibt – Inspiration, dem allergeringsten Anteil künstlerischen Gelingens. Höchst fraglich deshalb, ob Novalis, der wohl erste Apostel der Nacht, sie auch im Wissen darum derart verklärt hätte, daß er selbst nur noch kurz – kein Jahr nämlich mehr – zu leben hatte. Für ihn, zudem, war sie von vornherein der Trauer Raum, den er zu einem der Erlösung um- und eigentlich herbeischrieb:
Hinunter in der Erde Schoß, Weg aus des Lichtes Reichen! Der Schmerzen Wut und wilder Stoß Ist froher Abfahrt Zeichen. Wir kommen in dem engen Kahn Geschwind am Himmelsufer an.1
Seine Hymnen an die Nacht sind Verherrlichungen des Todes und damit komplett jugendlich. Nie meinen wir ihm näher zu sein, als wenn er weit, weit fern von uns ist. Nur da verbrüdern wir und verschwestern uns mit ihm und sprechen gar wie dieser junge Dichter von der „willkommensten aller Stunden“2:
Fernab liegt die Welt, in eine tiefe Gruft versenkt;
wüst und einsam ist ihre Stelle. In den Saiten der
Brust weht tiefe Wehmut.3
In dieser Wehmut freilich steckt Kraft – „Die Welt ist tief / und tiefer als der Tag gedacht“, heißt es in Nietzsches Zarathustra4. Um es im Bild auszudrücken: Was hören wir, wenn wir nicht sehen oder nur wenig sehen? Wir imaginieren’s. Wozu die Inszenierung der Nacht gehört und eben auch der Melancholie. Es ist in Wahrheit deren Bannen, etwas, das, indem wir es anzuschauen versuchen, uns weiterzuleben ermöglicht, vor allem aber weiterzuschaffen, obwohl wir uns die Grundlage aller Kunst, nämlich Form, noch gar nicht erarbeitet haben; ja, kaum daß wir schon wissen, was genau uns eigentlich antreibt. Wir sind noch so jung. Zumal Novalis, anders als wir, vom Kummer um seine früh, mit fünfzehn, verstorbene Geliebte bewegt war; sie war übrigens noch zwölf, als die beiden sich verlobten – heute, in Zeiten der Wokeness, hätte der dreiundzwanzigjährige Jurastudent als Mißbraucher gegolten. Soviel nur am Rande zu normative Gesetzgebung werdenden Ideologien, die sich am Geschlechterverhältnis versuchen. Die Venus, sagte Dieter Betz, mein Wahlvater, oft, sei eine glitschige Göttin und kenne keine Regeln.5 Regellosigkeit ist aber auch ein Zeichen der Nacht, insofern die Grenzen verschwimmen. Es werden die Konturen der Objekte verwischt, kurz: Die Wirklichkeit schattet sich ein. Wohin kein Licht fällt, gähnt eine Leere. Die nun füllen wir, die wir in ihr schreiben, mit uns und unsern Gesichten – als folgten wir der Natur, die kein Vakuum will:
Ins tiefere Heiligtum, in des Gemüts höheren Raum
zog mit ihren Mächten die Seele der Welt, zu walten
dort bis zum Anbruch der tagenden Weltherrlichkeit.6
Wo etwas aber schon ist, würde sie sich sperren, diese Weltherrlichkeit. Deshalb, wenn wir das Vakuum ausgemessen haben und abgesteckt unsre poetischen Claims, wird es Zeit für den Tag. Dann erst sind wir lichtbereit, jetzt müssen wir erkennen, dürfen nicht länger „ahnen“-allein. Wir sind dann ungefähr dreißig und nicht mehr pubertär genug, den Tod noch zu hofieren. Doch ohne daß wir’s taten, wird aus der Dichtung nichts, sie wäre sonst nur Ratio. Den Inhalt schöpfen wir, nämlich ihre Seele, lebenslang aus dem Früher. Nicht grundlos hat uns Goethe die Bemerkung hinterlassen, wir sollten in der Jugend alles aufzeichnen, was uns wichtig ist, um es später, wenn wir die Formen beherrschten, angemessen erzählen zu können. 1810 schreibt der unterdessen Einundsechzigjährige an seinen Verleger Cotta:
„Ich bin genötigt, in die Welt- und Literaturgeschichte zurück zu gehen, und sehe mich selbst zum erstenmal in den Verhältnissen, die auf mich gewirkt und auf die ich gewirkt habe.“7
Da ist Vieles jetzt erst zur Formung bereit; ohne dieses Viele aber bliebe Form hohl. Und etwas kommt noch dazu, das die erwachsenen Dichterinnen und Dichter Abstand von der Nacht nehmen läßt, der sie zugleich verpflichtet bleiben müssen. Ich habe es schon angedeutet, der Tod rückt objektiv näher, und bald schon sehen wir, wie kurz die verbleibende Strecke noch ist, doch drehn wir uns um und sehen zurück, ist sie zum Schwindlichwerden lang. So schnell ging das herum! – und haben doch nicht mal, sie noch einmal zu gehen, die Zeit. Allerspätestens dann scheuen wir, ja schaudern vor der Nachtarbeit zurück – es sei denn, ja, es sei denn, wir sind so kurz vorm Finale des Romanes, des Gedichts, dass wir nicht aufhören können; so hat er uns besetzt, der Text. Dann, nur dann, schreiben wir, schreibe jedenfalls ich auch heute noch bei Nacht. Doch wenn es irgend geht, bis in den Morgen dann hinein, bis in sein neues Licht.
___________________ ANH, Berlin 23. bis 27. August 2023
1 Novalis, Hymnen an die Nacht (HN) 19 2 HN 14 3 HN 7 4 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Das Nachtlied 5 In der gesprochenen Version wurde dieser Satz auf Bitte der Redakteurin leicht verändert; da Betz nicht allgemein bekannt sei, lasse seine Nennung den Hörfluß stocken: Ein Argument, das ich nachvollziehbar fand und finde. / ANH 6 HN 15 7 Goethe an Cotta, 18.11.1810
[Zum Mitlesen:]
Alban Nikolai Herbst
Bis in das neue Licht hinein
Ich bin 68, fast schon 69. Die Dunkelheit, eine sehr wahrscheinlich bleibende, naht; so naht mithin die Endgültigkeit, ein Ende, das sich nicht mehr umdrehen läßt. Ein neuer Tag wird sehr bald nicht mehr werden. Weit zurück die Zeiten, in denen auf je den nächsten so unbedingter Verlaß war, daß ich mir durchschriebene Nächte nicht nur leisten konnte, sondern sie ebenso intensiv feierte wie heute die Jugend in Clubs. Aus guten Gründen gehen wir Älteren nicht mehr oft dorthin, anders als früher, da die Melancholie noch zum Selbstverständnis eines Poeten gehörte, der auch noch gar nicht das Handwerk verstand, das uns die Form zu schätzen lehrt und ihre klaren Konturen. Die wir halt nur im Licht erkennen und ausführen können. Das Ungefähr dient der – sofern es sie überhaupt gibt – Inspiration, dem allergeringsten Anteil künstlerischen Gelingens. Höchst fraglich deshalb, ob Novalis, der wohl erste Apostel der Nacht, sie auch im Wissen darum derart verklärt hätte, daß er selbst nur noch kurz – kein Jahr nämlich mehr – zu leben hatte. Für ihn, zudem, war sie von vornherein der Trauer Raum, den er zu einem der Erlösung um- und eigentlich herbeischrieb:
Hinunter in der Erde Schoß,
Weg aus des Lichtes Reichen!
Der Schmerzen Wut und wilder Stoß
Ist froher Abfahrt Zeichen.
Wir kommen in dem engen Kahn
Geschwind am Himmelsufer an.1
Seine Hymnen an die Nacht sind Verherrlichungen des Todes und damit komplett jugendlich. Nie meinen wir ihm näher zu sein, als wenn er weit, weit fern von uns ist. Nur da verbrüdern wir und verschwestern uns mit ihm und sprechen gar wie dieser junge Dichter von der „willkommensten aller Stunden“2:
Fernab liegt die Welt, in eine tiefe Gruft versenkt;
wüst und einsam ist ihre Stelle. In den Saiten der
Brust weht tiefe Wehmut.3
In dieser Wehmut freilich steckt Kraft – „Die Welt ist tief / und tiefer als der Tag gedacht“, heißt es in Nietzsches Zarathustra4. Um es im Bild auszudrücken: Was hören wir, wenn wir nicht sehen oder nur wenig sehen? Wir imaginieren’s. Wozu die Inszenierung der Nacht gehört und eben auch der Melancholie. Es ist in Wahrheit deren Bannen, etwas, das, indem wir es anzuschauen versuchen, uns weiterzuleben ermöglicht, vor allem aber weiterzuschaffen, obwohl wir uns die Grundlage aller Kunst, nämlich Form, noch gar nicht erarbeitet haben; ja, kaum daß wir schon wissen, was genau uns eigentlich antreibt. Wir sind noch so jung. Zumal Novalis, anders als wir, vom Kummer um seine früh, mit fünfzehn, verstorbene Geliebte bewegt war; sie war übrigens noch zwölf, als die beiden sich verlobten – heute, in Zeiten der Wokeness, hätte der dreiundzwanzigjährige Jurastudent als Mißbraucher gegolten. Soviel nur am Rande zu normative Gesetzgebung werdenden Ideologien, die sich am Geschlechterverhältnis versuchen. Die Venus, sagte Dieter Betz, mein Wahlvater, oft, sei eine glitschige Göttin und kenne keine Regeln.5 Regellosigkeit ist aber auch ein Zeichen der Nacht, insofern die Grenzen verschwimmen. Es werden die Konturen der Objekte verwischt, kurz: Die Wirklichkeit schattet sich ein. Wohin kein Licht fällt, gähnt eine Leere. Die nun füllen wir, die wir in ihr schreiben, mit uns und unsern Gesichten – als folgten wir der Natur, die kein Vakuum will:
Ins tiefere Heiligtum, in des Gemüts höheren Raum
zog mit ihren Mächten die Seele der Welt, zu walten
dort bis zum Anbruch der tagenden Weltherrlichkeit.6
Wo etwas aber schon ist, würde sie sich sperren, diese Weltherrlichkeit. Deshalb, wenn wir das Vakuum ausgemessen haben und abgesteckt unsre poetischen Claims, wird es Zeit für den Tag. Dann erst sind wir lichtbereit, jetzt müssen wir erkennen, dürfen nicht länger „ahnen“-allein. Wir sind dann ungefähr dreißig und nicht mehr pubertär genug, den Tod noch zu hofieren. Doch ohne daß wir’s taten, wird aus der Dichtung nichts, sie wäre sonst nur Ratio. Den Inhalt schöpfen wir, nämlich ihre Seele, lebenslang aus dem Früher. Nicht grundlos hat uns Goethe die Bemerkung hinterlassen, wir sollten in der Jugend alles aufzeichnen, was uns wichtig ist, um es später, wenn wir die Formen beherrschten, angemessen erzählen zu können. 1810 schreibt der unterdessen Einundsechzigjährige an seinen Verleger Cotta:
„Ich bin genötigt, in die Welt- und Literaturgeschichte zurück zu gehen,
und sehe mich selbst zum erstenmal in den Verhältnissen, die auf mich
gewirkt und auf die ich gewirkt habe.“7
Da ist Vieles jetzt erst zur Formung bereit; ohne dieses Viele aber bliebe Form hohl. Und etwas kommt noch dazu, das die erwachsenen Dichterinnen und Dichter Abstand von der Nacht nehmen läßt, der sie zugleich verpflichtet bleiben müssen. Ich habe es schon angedeutet, der Tod rückt objektiv näher, und bald schon sehen wir, wie kurz die verbleibende Strecke noch ist, doch drehn wir uns um und sehen zurück, ist sie zum Schwindlichwerden lang. So schnell ging das herum! – und haben doch nicht mal, sie noch einmal zu gehen, die Zeit. Allerspätestens dann scheuen wir, ja schaudern vor der Nachtarbeit zurück – es sei denn, ja, es sei denn, wir sind so kurz vorm Finale des Romanes, des Gedichts, dass wir nicht aufhören können; so hat er uns besetzt, der Text. Dann, nur dann, schreiben wir, schreibe jedenfalls ich auch heute noch bei Nacht. Doch wenn es irgend geht, bis in den Morgen dann hinein, bis in sein neues Licht.
___________________
ANH, Berlin
23. bis 27. August 2023
1 Novalis, Hymnen an die Nacht (HN) 19
2 HN 14
3 HN 7
4 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Das Nachtlied
5 In der gesprochenen Version wurde dieser Satz
auf Bitte der Redakteurin leicht verändert;
da Betz nicht allgemein bekannt sei, lasse seine Nennung
den Hörfluß stocken: Ein Argument, das ich nachvollziehbar
fand und finde. / ANH
6 HN 15
7 Goethe an Cotta, 18.11.1810