Selbstsoße. Im Arbeitsjournal des Sonntags, den 8. Oktober 2023.

[Arbeitswohnung, 8.16 Uhr
Xenakis, → La l’Égende d’Eer (1978)]

           Nur Müll. Soeben an Marius Felix Lange geschrieben, der, wie er mir gestern abend mitgeteilt hat, zu → dem Liederabend kommen will (er spielt immer mal wieder mit dem Gedanken, einige meiner Gedichte zu vertonen):

Ja, den Infektanfall abgeschüttelt, dauerte übern Daumen zwei Tage. Und: Das freut mich sehr, daß Sie → hinkommen werden. Allerdings ist nicht heraus, ob der Abend auch gut oder bloß „bourgeois“ das Übliche wird. Wiewohl ein mir stets zugeneigter Eindruck, hat Parr (der den Abend für die Oper konzipiert) meine sämtlichen Ideen nicht abgeschmettert, sondern erst nickend-offen entgegengenommen und dann stillschweigend vom Tisch gewischt, so daß nach seinem Willen jetzt Literatur und Musik → in völlig getrennten Blöcken vorgeführt werden sollen, während ich beides miteinander direkt konfrontieren, ineinander verzahnen wollte. Anders ergibt solch ein Abend überhaupt keinen Sinn, die Literatur wird sozusagen zu Pausenwerk, etwas Neues kann überhaupt nicht entstehen, wie und auf was meine Gedichte antworten, wäre fürs Publikum komplett unklar. Und die Vorlage des Programmhefts strotzt nur so vor Unfug, jedenfalls, was mich und meine Texte anbelangt. Ich habe also einen s e h r scharfen Brief geschrieben; Göttinseidank hielt mich Sabine Scho davon ab, ihn abzuschicken – er hätte jegliche Tür zugeschissen -, sondern pragmatisch-diplomatisch zu reagieren. Ich habe ja auch bei den Proben dabeisein wollen, eigentlich bei allen, das wurde aber abgelehnt. Jetzt werde ich am Dienstag aber doch bei einer, der Hauptprobe, dabeisein, weil offenbar die Sänger meine Ideen gut finden und umsetzen möchten. Dazu m u ß ich dann eben hin. „Wir können’s ja mal ausprobieren“, so Parr. Da wird jetzt einiges von meiner Überzeugungskraft und poetischen Aura nötig sein, und die Leute müssen mich mal h ö r e n, also rezitieren hören. Da hat ja niemand eine Vorstellung, daß ich eben n i c h t nur vorlese, sondern sprechend g e s t a l t e – wie eben ein Musiker-selbst. Möglich also, daß ich alles nochmal rumreiße. Doch kruder Dllettantismus bleibt es allemal. Um etwas real werden zu lassen wie das, was ich sehr vor mir in mir höre, hätte es mindestens d r e i Proben gebraucht; imgrunde bleibt jetzt nur die Flucht in die Improvisation. Unterm Strich habe ich, der nun fast vier Wochen an dem Projekt bis ins Detail gearbeitet hat, diesen Aufwand für nichts – oder, je nachdem, wie’s am Dienstag ausgehen wird, fast nichts – gestemmt. Und werde dafür nicht mal bezahlt, bzw. bloß wie jemand, der zwischendurch mal irgendwelche Gedichte vorliest., Und Sie hätten mal lesen müssen, was die über mich unter den Biografien für einen Müll geschrieben haben, kein Wort über meine vielen Schriften zur Musik, nix zu meinen Konzert- und Opernkritiken (wiewohl das der Deutschen Oper nun wirklich bekannt sein sollte), nix über die Libretti, nix über die Vertonungen. Es ist einfach, anders kann ich es nicht sehen, das pure Desinteresse von Leuten, die über ihren engsten Tellerrand nicht hinausgucken, sich statt dessen in immer und immer der gleichen Selbstsoße baden.

          Und dann das Foto, das sie → von mir online gestellt haben … meine Güte, da war ich grad mal vierzig! Achtundzwanzig Jahre ist das her. Meine Contessa kommentierte es so:

Den Anzug immerhin trage ich bisweilen noch heute. Aber überhaupt, Fotos! Die Berliner Zeitung bittet um eines für ihre redaktionelle Ankündigung der Veranstaltung; sie hätten zwar ein schönes (es dürfte dasselbe sein, das die Deutsche Oper nahm), aber ein neueres wäre besser, sofern es nichts koste. Ich schlug Dirk Skiba und Gaga Nielsen vor, aber es war mal wieder alles furchtbar eilig, und ein ganz neues von Nielsen, das sich eignen würde, fand ich auf die schnelle nicht. Also die beste Wahl, Skiba. Selbstverständlich gibt er die Bilder nicht für nichts. Gut, im Notfall werde man mir einen eigenen Fotografen ins Haus schicken, heute, also nachher. Als würde das nun weniger kosten … — Jedenfalls schicke ich der Redakteurin drei Bilder zur Auswahl und Skibas Email-Adresse gleich mit, nehme mit ihm aber meinerseits Kontakt auf und bitte ihn, das Honorar niedrig zu halten. Kurz danach erreicht mich eine Mail der Pressestelle der Deutschen Oper: Ob ich ein honorarfreies Foto für sie hätte, die Berliner Zeitung habe angefragt …. „Wie klein Fritzchen sich vorstellt, daß Politik gemacht werde, so wird sie gemacht“, Karl Kraus. Und dann ein atemloses Entsetzens-SIGNAL Benjamin Steins: Krieg nun auch in Israel. Familiär ist er selbst betroffen, Lars Hartmanns Falken → wachsen Doppelflügel. Frieden wird zum fernen Erinnerungswort, wir werden mit Autokratien kämpfen müssen Seite an Seite und gegen sie zugleich. Und dennoch Apfelbäumchen pflanzen. Die NZZ sägt schon an Biden, und nicht einmal zu Unrecht. In Deutschland sehe ich eine AfD-Kanzlerin, einen AfD-Kanzler voraus, bei der nächsten Wahl des Bundestags noch nicht, doch bei der darauf. Die → Migrationsprobleme gemixt mit der diktierten Correctness-Politesserei genügen, man nimmt den Menschen das unter Umständen letzte weg, was sie noch haben, ihre Sprache; es ist dies ja alles andere als ein demokratische Prozeß, geschweige eine normale Sprachentwicklung aus sich selbst. Natürlich entwickelt jede Sprache sich weiter; Entwicklung bedeutet aber nicht Diktat, schon gar nicht einer an der Bevölkerungszahl gemessen miniaturen Gruppe. Akademische, akademistische Oligarchie. Ich weiß auch nicht mehr, was ich noch wählen kann, soll, nicht mal, ob ich noch will. Aber es gibt ja keinen Rassismus gegen „Weiße“, erst recht nicht, wenn sie alt sind, männlich, heterosexuell, und letztres auch noch gerne. Übrigens hat mich die Diversitäts-AG des PEN Berlins ganz offensichtlich rausgeschmissen; schon in die letzte Zoomsitzung kam ich nicht mehr rein, und ich erhalte keine Nachrichten der Gruppe mehr. Auf Anfragen: Schweigen. Genauso funktioniert’s. Auf der Messe werd ich da mal motzen, scharf. Vorher nicht, ich hab keine Zeit. Gleich nach dem Liederabend habe ich einen Tag, um meinen Impulsvortrag → dafür zu schreiben; muß auch → den Reader noch lesen. Aber heute hat लक्ष्मी Geburtstag, ab halb vier Uhr nachmittags wird mein Schreibtisch geschlossen.

Ich sitze immer noch im Morgenmantel hier, unrasiert und ungeduscht, geschweige, daß ich schon eine Krawatte trage. Eine gewisse Nachlässigkeit schleift sich auch grad in mich ein, etwa, indem ich keinen Wecker mehr stelle, sondern aufsteh, wenn ich halt aufwach. Heute war das kurz vor sieben. Eigentlich ein Zeichen zu den Waffen (al arma!), auch daß ich deutlich zu wenig esse, bin auf 68 kg runter. Doch es interessiert mich kaum, macht mich nicht nervös. Anderes, siehe Gaza, schon, siehe Ukraine. Am Mittwoch werde ich das von → Kühlmann so genannte „imponierend wütende Versgebilde“ Gott kotzt in die Demokratie vortragen, einen der wenigen nicht-sanften Text des Abends — ohne den Titel aber: Wer da spricht, kann sich das Publikum selber denken. Es ist seine Antwort auf dieses Gedicht:

Think no more, lad; laugh, be jolly;
Why should men make haste to die?
Empty heads and tongues a-talking
Make the rough road easy walking,
And the feather pate of folly
Bears the falling sky.

Oh, ’tis jesting, dancing, drinking
Spins the heavy world around.
If young hearts were not so clever,
Oh, they would be young for ever;
Think no more; ’tis only thinking
Lays lads underground.
A.E.Housman, Think no more, Lad

Ihr, o Freundin,
ANH
[Ivor Gurney, → Ludlow and Teme]

2 thoughts on “Selbstsoße. Im Arbeitsjournal des Sonntags, den 8. Oktober 2023.

  1. Ein grauer Tag hier im „Norden“.
    Die Wolken hängen müde am Mittagshimmel, ab und zu löst sich ein herbstlicher Schauer, die ersten Blätter fallen.
    Eine Fülle an verschiedenen Themen breiten sich in ihrem Beitrag aus, ich möchte zunächst nur meinen „SpontanKommentar“ aus fb hier schreiben:
    Ihrer Idee, der Verzahnung von Musik und Vorgetragenem, folge ich gerne. Ich stelle mir eine Art von „Dialog“ vor, einen sinnlichen Dialog, in dem sich die Tore der inneren Wahrnehmung öffnen – kreativ, lebendig, offen…
    So fließt die Energie zwischen Publikum, Musik und Vorgetragenem . Die Stimme, IHRE Stimme, wenn Sie lesen, wird alle Beteiligten begeistern.
    Diese wunderbaren Schwingungen, die sich mit Ausflügen in die Improvisation, wunderbar verbinden lassen, werden den Abend bereichern.
    RIvS.(c).

  2. Und, als Nachtrag:
    Ja, die „Skiba.Fotos“ sind eine gute Wahl, wobei ich zu → 2022-04, 2022-05 und 2022-08 tendiere.
    2022-08 bevorzuge ich allein wegen meiner Interpretation:
    Es liegt etwas „Mephistophelisches“ darin (nicht im bösartigen Sinne, versteht sich…)
    RIvS.(c).

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