[Geschrieben für Faust Kultur
und → dort am 8. April 2024 erschienen.]
Oft – wir sagten „oftermals“ – habe ich mir gewünscht,
daß sie nicht nur so in mir beschlossen wäre, wie
die Lyrik es meint, sondern so leibhaftig wie eine
kleine russische Puppe in der größeren.
Günter Steffens, Die Annäherung an das Glück
Dieser Roman ist nicht so sehr deshalb ein poetisch heikles Buch, weil deutlich autobiografisch, sondern weil es von einem der schwersten Verluste erzählt, die ein Mensch zu ertragen lernen muß, wenn er ihm geschieht – die lebensendgültige Trennung vom tiefstgeliebten Menschen, den wir haben. Ein unvorhergesehener, unvorhersehbarer Tod riß ihn uns weg; nicht einmal Abschied konnten wir nehmen. Da kommt es nicht von ungefähr, dass Sabine Gruber sich an einer fast unscheinbaren Stelle auf ein anderes Trauerbuch bezieht, eines, das seinesgleichen in künstlerischer Gestaltung und Durchdringung sucht – Günter Steffens’ 1976 erschienener Roman „Die Annäherung an das Glück“. Hier endlich, bei Sabine Gruber, hat er siebenundvierzig Jahre später sein Gegenstück gefunden – „gegen“, weil diese Dichterin anders als Steffens erst einmal auf Distanz geht, zu sich selbst wie zu dem Schicksalsschlag, der sie getroffen. Wo Steffens’ schwere Trauer bereits im allerersten Absatz steht, ja aus ihm herauswogt, hört Renata allein das Rauschen des Verkehrs. Sie
sitzt am offenen Fenster, die Platanenblätter versperren den Blick zum Kanal.
Um diese Zeit erwartet sie niemanden, sie steht nicht auf, geht nicht zur Tür.
In einem großen Haus mit vielen Wohnungen wird ständig renoviert und umgebaut.
Anders als bei Steffens geht hier das Leben weiter, auch ihres, der Autorin wie ihrer Protagonistin. Deshalb ist deren Trauer zu allererst und beinah nur – Beobachtung.
Renata liebt es, während der Arbeit mit ihrem Blick in die Himmelsöffnung
zwischen den Häusern am Platz zu tauchen. (…) „Himmelschwimmen“
nennt sie dieses Abschweifen, das gleichzeitig Sammlung bedeutet.
Sammlung, genau dies Wort, ist zentral für den Roman: Wie bewahre ich die Haltung? – Ganz sicher erst einmal, indem ich auf sie achte. Stilistisch ist dies eine geradezu – in übertragenem Sinn verstanden, bitte – aristokratische Haltung, die das Buch über weite Strecken bestimmt, es sind Stolz und Würde, die sich Renata nicht auch noch nehmen lassen will; anders als Steffens will sie ihr Ich behalten. Deshalb darf sie auch nicht als Ich erzählen, sondern muß sich in einer Kunstfigur objektivieren. „Dafür war man ja ein Herr, dass man Katastrophen mit sich selbst ausmacht“, sagt Niebelschützens Graf Godoitis, dafür ist man Frouwe ja. Und hat neben dem Verlust auch noch die abgrundtiefe Miesheit der gesetzlichen Erben zu ertragen; Renata selbst, weil nie verheiratet und das zwar aufgesetzte Testament nicht handschriftlich verfaßt ward, bleibt nichts als die Erinnerung; die nahsten gemeinsamen Gegenstände kommen unter den im ebay-Sinne Hammer.
Das Recht war nur so lange auf der Seite der Liebenden,
solange sie beide lebten. Mit dem Tod des einen und an-
deren löste es sich in Nichts auf (…).
Und wir folgen ihrem Blick:
Das sechseckige Beistelltischchen, eine Arbeit des Künstlers Fabian Fink,
steht nicht mehr neben der Couch. Die alte Leica-Kamera ist verschwunden.
Die Bose-Boxen wur-den abmontiert. Das kleine Bild mit den Nüssen von
Markus Vallazza fehlt. Auch der goldfarbene Reliquienrahmen, in den Rena-
tas Großmutter einen Spiegel hatte montieren lassen, ist nicht mehr an sei-
nem Platz.
Die auktoriale Perspektive wird strikt von Gruber durchgehalten, manchmal auch ein wenig zu sehr, wenn nämlich die eingeschobenen „Renata denkt“, „so scheint es Renata jetzt“ oder „möchte Renata schreien“ die Distanzierung noch unnötig betonen. Wir spüren allerdings da schnell, dass es genau die Stellen sind, an denen sich die Trauer einen Ort schaffen will, und deshalb gerade schmerzen sie unser ästhetisches Bewußtsein. Das nämlich ist die große Kunst dieses Buches, dass wir Renatas Trauer haben, die selbst nur höchst gelegentlich in ihre eigne Sprache findet, dann aber in die sinnlichste:
Renata liegt auf dem Bauch, umfängt das Kissen, hebt den Kopf
und leckt so oft über den Damastbezug, bis ihre Zunge schmerzt.
Ach, dieser Anspruch an sich selbst!
„Du bist stärker als ich“, hatte Konrad einmal zu Renata gesagt. Deshalb
muß ich vor dir sterben. Ich könnte es nicht aushalten, dich zu verlieren.
Ich bin nicht stärker, denkt Renata.
So bricht die Trauer schließlich doch noch über sie herein:
Renatas Hände zittern, als sie vor der Anrichte steht und
die Nägel betrachtet, die noch in der Wand stecken. Das
Zittern läßt sie nicht mehr los. Es zittert ihr Kinn, und es
zittert in ihrem Brustkorb. Es zittern die Knie, und es
zittern die Augenlider.
Das aber steht erst nach weit über der Hälfte des Buches, nachdem zu dem Verlust auch noch ein Argwohn kam, der Renata als nunmehr, weil ohne noch lebendigen Sinn, völlig deplazierte Eifersucht quält. Die überdies jetzt auszuhalten ist. Was nur noch Ironie vermag. Sie brauche einen „Überbrückungsliebhaber“ rät ihr folgerichtig eine Freundin. Der irgendwann auch auftaucht. Doch ist selbst das vergeblich:
Der in die Jahre gekommene Konrad war stets von dem ersten Bild
mitgeprägt gewesen in das sie sich Hals über Kopf verliebt hatte.
Wie sollte sie sich nun in einen fremden Mann ihres Alters verlieben,
dessen Jugend nicht einmal zu ahnen ist?
Eine Frage, die wir uns wohl alle stellen, wenn wir altern allein nur mit uns selbst. Es braucht dazu nicht den Verlust; er macht es aber deutlich schwerer. Umso ergreifender, in welches Geheimnis Renata nun eindringt: Es saugt sie ein, und sie schaut:
Im Osten wird es heller und heller. Die Spiegelung des Bergzugs
gegenüber im Wasser ist farblich kaum von den wirklichen Ber-
gen zu unterscheiden, nur die Silhouette franst auf der Seeober-
fläche aus.
Die letzten drei Sätze verrat ich aber nicht. Die müssen Sie jetzt selber lesen – wie diesen ganzen Roman.
Sabine Gruber
Die Dauer der Liebe
Roman
Geb., 251 S., 24 €
ISBN-13: 9783406806964
C. H. Beck, München 2023
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